taz.de -- „1000 Eyes“ am Wiener Schauspielhaus: Asme verzweifelt gesucht
Mazlum Nergiz erzählt eine kurdisch-französische Familiegeschichte. In der Wiener Inszenierung plappern Disney-Figuren über deren Horror hinweg.
Wer jemals Enden von analogem Film zusammengeklebt hat, wird sich in der Lektüre von „1000 Eyes“ ganz gut zurechtfinden. Der Theatertext von [1][Mazlum Nergiz] wirkt wie eine Montage von am Leuchttisch arrangierten Filmschnipseln. Wiederkehrende Muster erschließen sich erst im Verlauf, aber irgendwie hängt dann doch alles mit allem zusammen.
Das werden im Stück die auftretenden Stimmen auch über die Protagonistin sagen. Asme ist Filmstudentin und hat ein ziemlich hermetisches Œuvre zurückgelassen, samt nebulöser Theoriebildung, die selbst ihren Professor einsilbig dastehen lässt. Danach ist sie verschwunden, endgültig und abschiedslos. Sie stammt aus einer kurdischen Familie in Frankreich und hat sich dem bewaffneten Kampf angeschlossen, irgendwo zwischen Türkei, Syrien und Irak.
Die Suche nach Spuren und den Motiven ihres Verschwindens mischt sich unter die Ereignis- und Lebensdaten kurdischer Aktivisten und Kämpferinnen, die 2013 in Paris von türkischen Diensten, 1989 von iranischen in Wien ermordet wurden. Als eine Art Flaschenpost aus dem Jahr 1960 taucht der gerade aus der Psychiatrie entkommene Komponist auf, der 1947 die Bühnenmusik für „Les Mouches“ (Die Fliegen) von Jean-Paul Sartre geschrieben hat.
Mit der Attrappe eines Schwangerenbauchs läuft Asme auf den Spuren einer Selbstmordattentäterin durch ihre hinterlassenen Bildkader. Geister wollte sie befragen, die ihr den Alp auf die Brust drücken, Tote, ohne die es keine Zukunft gibt. Das könnte in ein traditionelles Theatersetting münden, sogar den Anachronismus des Tragischen hervorrufen, würden nicht [2][Walt-Disney-Figuren] immer dann losplappern, wenn der Horror der Geschichte die Sprache verschlägt.
Dröhnende Monologe
Mazlum Nergiz gehört seit Saisonbeginn zum neuen Leitungsteam im [3][Wiener Schauspielhaus]. Sahar Rahimi hat dort seinen Einstand inszeniert. Auch sie spielt in der Recherche nach verlorenen Zeiten und Menschen mit der wohligen Atmosphäre des alten Kintopps. Auf der Videowand flackert die Titelschrift wie im Stummfilm. Es folgen ein paar Bild-im-Bild-Sequenzen mit flimmernden Monitoren. Filmgeschichte ist in die handelnden Personen gefahren. Asmes Mama trägt eine Boris-Karloff-Maske, Papa ist ein blondes Schneewittchen, Daisy Duck und Minnie Mouse referieren einen Dialog der Revolutionärin mit ihrer Schwester. Monologe dröhnen im Pappmaché der Schwellköpfe.
Der Abend setzt politische Bildung voraus. Man sollte Bescheid wissen über die Geschichte der Kurden, ihren Befreiungskampf, die ambivalente Rolle der [4][PKK], ihren Personenkult, den brutalen Umgang mit Dissident:innen, über Märtyrerverehrung, die den bewaffneten Kampf über seine Zeit prolongiert, die Rolle der Frauen in der Guerilla, aber auch die Inszenierung ihres Abbilds im radical chic der Propaganda. Die Partei hat nach wie vor tausend Augen, aber möglicherweise ist sie blind geworden.
Schneewittchens plappernde Zwerge füllen vorsichtshalber Wissenslücken auf, was manchmal nervt. Nach einer Kinopause, die keine ist, wird die Filmwand zur Seite geschoben. Die Bühne öffnet sich zur Arena. Schließlich wohnt man einer befremdlichen Eucharistiefeier bei. Die Familie verspeist eine Cremetorte in Gestalt ihrer Märtyrertochter, bis die Mutter hyperventilierend davonrennt.
Zwei stille Aufträge widerstreiten in diesem Familienroman, die Hoffnung auf Befreiung nicht aufzugeben und sich trotzdem dem Mythos zu entziehen und zu überleben. In „1000 Eyes“ prallen beide Maximen aufeinander. Erinnyen, die Rachegöttinnen der Geschichte, lassen sich nicht abschütteln. Für Mazlum Nergiz hinterlassen sie hinter vielen Worten nur stumme Trauer. Vielleicht weiß ja Jean-Paul Sartre, wie man „Die Fliegen“ loswird.
15 Jan 2024
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