taz.de -- Die Wahrheit: Schummelweihnachten bei Muttern

Eines Tages führten die Wachtürme des Glaubens einige schrullige Regeln ein, bis das Fest der Feste in einer Art Hollywood-Version gefeiert wurde.
Bild: Himmelsstürmer: Die Skulptur von Jonathan Borofsky findet bei den Kasseler Bürgern nach wie vor sehr viel Anklang

Weihnachten ist für mich kein reales Fest. Eher ein mediales Ereignis. Das hat mit meiner Kindheit bei den Zeugen Jehovas zu tun. Die feiern nämlich kein Weihnachten. Exakt seit 1927. Um sich von den großen Kirchen, vor allem aber von ihren eigenen Abspaltungen abzusetzen.

In den zwanziger Jahren gab es diverse Schismen bei den „Bibelforschern“, wie sie sich damals noch nannten. Um nicht mit den Abtrünnigen verwechselt zu werden, dachte sich die Mehrheitsfraktion überraschend schrullige Regeln aus. So wurde unter anderem das Feiern von Weihnachten, Ostern und Geburtstagen verboten und das Kreuz als christliches Symbol abgeschafft. Weil all das heidnischen Ursprungs sei.

Dass der 25. Dezember als Datum der Geburt Jesu vom Geburtstag des römischen Sonnengottes „Sol invictus“ übernommen wurde, wussten die Bibelforscher allerdings schon vor 1927, was sie aber nicht davon abhielt, in ihrer Zentrale in Brooklyn Christbäume aufzustellen und gemeinsam zu wichteln. Jetzt aber brauchten sie Unterscheidungsmerkmale. Also fügten sie ihrem sowieso schon aus crazy Endzeitberechnungen und exzentrischen Theorien bestehenden Glaubensgebäude noch bizarrere Ideen und Verbote hinzu, angesichts derer sogar die Mormonen – bis dahin die Großmeister im wacky Storytelling und Abstruse-Regeln-Aufstellen – mit den Ohren schlackerten. Zum Abschluss änderten die „Bible Students“ dann noch ihren Namen in „Jehovah’s Witnesses“.

In diesen Grinch-Club trat meine Mutter Anfang der siebziger Jahre ein und wurde in der Folge die Erfinderin der Schummelweihnacht. Offiziell waren die Feiertage, wie meine Mutter betonte, „ganz normale Tage“: Kein Baum, kein Gesang, keine Geschenke. Aber unbewusst hinterging meine fromme Erziehungsberechtigte die Wachtturm-Gesellschaft: Sie buk Plätzchen, erzählte vom schneereichen Winter in Oberhessen, zündete Kerzen an, „weil das so gemütlich ist“, und es gab Pute. Oder Ente. Keine Gans! Das wäre ja Weihnachtsessen gewesen.

Und weil im Wachtturm explizit nichts über mediales Passivweihnachten stand, schauten wir alles, was der Löwe Opta hergab: „White Christmas“ mit Bing Crosby, „Jede Frau braucht einen Engel“ mit Cary Grant oder „Holyday Affair“ mit Robert Mitchum und Janet Leigh.

Das, was mir da geboten wurde, gefiel mir viel besser als die Realität, von der ich an Heiligabend zumindest eine Ahnung bekam, wenn ich in die erleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Blocks schaute. Durch halbgeöffnete Gardinen sah ich: Karg geschmückte Tannen, lustlose Kinder mit Blockflöten, Männer in billigen Weihnachtsmannkostümen …

Auf die Geschenke war ich trotzdem neidisch. Lustiger aber schien mir das TV-Hollywood-Weihnachten zu sein. Und bunter. Selbst in Schwarz-Weiß.

27 Dec 2023

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Hartmut El Kurdi

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