taz.de -- Hegemonie in Lateinamerika: Hamas bestimmt den linken Diskurs

In bedeutenden Kreisen Lateinamerikas hat der Slogan „Free Palestine“ popkulturellen Wert. Kritischen Blicke auf die Hamas sind in der Linken selten.
Bild: Pro-palästinensische Demonstration am 3.11. in Buenos Aires

Auf Facebook kursiert derzeit ein Satz, den in Mexiko viele lustig finden. „Israelar“, also auf Deutsch „israelisieren“, sei das Verb dafür, „jemandem etwas wegzunehmen, dann so zu tun, als sei es deins, und dich zum Opfer zu machen“, heißt es in einem beliebten Post. Die Musiker der spanischen Band Ska P hüpfen indes in T-Shirts, die in den palästinensischen Farben gehalten sind, auf dem chilenischen Maleza-Festival über die Bühne, brüllen ihren beliebten Song „Intifada“ und erfreuen sich eines tobenden Publikums, das eine riesige Flagge ihres imaginisierten Traumlandes in die Höhe hält.

Derweil tritt [1][Roger Waters] in Montevideo, Buenos Aires und anderen Latino-Städten auf. Dass der Ex-Pink-Floyd-Musiker behauptet, Israel würde hinsichtlich des Massakers vom 7. Oktober „Geschichten“ erfinden und die Sache aufblasen, stört seine Fans nicht. Im Gegenteil.

Es gibt anscheinend nur ein Opfer

Keine Frage, die Hamas hat den Kampf um die diskursive Hegemonie in bedeutenden gesellschaftlichen Kreisen Lateinamerikas gewonnen. „Free Palestine“, was auch immer damit gemeint sein soll, hat popkulturellen Wert bekommen. Wer sich kritisch, irgendwie links oder einfach hip fühlt, steht im Krieg zwischen der Hamas und Israel auf der Seite derjenigen, die inzwischen als einzige Opfer sichtbar erscheinen: die Palästinenser*innen.

Natürlich fühlen sich nicht wenige der tausende Demonstrant*innen, die etwa in Mexiko-Stadt auf die Straße gingen, durch die Meldungen über die grausigen Folgen der israelischen Angriffe zu ihrem Protest motiviert und fordern schlicht ein Ende des Kriegs. Und sicher empfinden manche auch etwas Empathie für die jüdischen Opfer des Hamas-Massakers. Doch die öffentliche Wahrnehmung wird vom Motto des Demo-Aufrufs geprägt: „[2][From the River to the Sea], Palestine Will Be Free.“

Kritische linke Stimmen sind die Ausnahme

Stimmen, die einen kritischen Blick auf den Hamas-Terror werfen, sind in der Linken eine Ausnahme. Selten findet man Texte wie den von [3][Heriberto M. Galindo Quiñones, der in der linken Tageszeitung La Jornada schreibt], die Unschuldigen und die Schuldigen seien auf beiden Seiten zu finden. Meistens bleibt es liberalen und jüdischen Kommentator*innen überlassen, differenziert auf die Ereignisse zu schauen. So beispielsweise Esther Shabot. Die jüdische Nahost-Expertin beschäftigt sich [4][in einer Kolumne in der konservativen Zeitung Excelsior] mit einem für Mexiko naheliegenden Thema: den Parallelen zwischen organisiertem Verbrechen und Hamas.

Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied. Während die Kriminellen nur wirtschaftliche Ziele verfolgen, wollen die radikalen Islamisten in einer heiligen Mission den Staat Israel zerstören und alle „Ungläubigen“ vertreiben oder vernichten. Das verleiht dem Massaker vom 7. Oktober den Charakter eines Pogroms. Doch in ihrem Morden verwenden Mafia und die Hamas dieselbe Bildersprache. Sie hinterlassen brutal zugerichtete Leichen und richten wahllos Menschen hin – Bilder, mit denen sie ihre grenzenlose Macht über ihre Feinde zum Ausdruck bringen.

Terror gegen „Untreue“

„In beiden Fällen entspringt die Grausamkeit nicht einer Notwendigkeit, sondern einem Vergnügen als Teil eines sadistischen Impulses, der, einmal entfesselt, vor nichts haltmacht“, schreibt Shabot. Wie die Kriminellen verfügt die Hamas über eine gesellschaftliche Verankerung, die auf Wohltaten für ihre Unterstützer*innen und Terror gegen „Untreue“ basiert. Das sorgt dafür, dass sie von Teilen der Bevölkerung geschützt werden und dass sie sich in Tunneln bewegen oder Einrichtungen wie Krankenhäuser für ihre Zwecke missbrauchen können.

Zu Recht kritisiert die Kolumnistin die ständigen Versuche, den Hamas-Terror mit dem Fehlen eines palästinensischen Staats zu legitimieren. „Sollten wir etwa die perversen Aktionen der Banden des organisierten Verbrechens in Mexiko damit rechtfertigen, dass die Beteiligten an Mängeln leiden, an fehlender Erziehung und Perspektiven, Misshandlung in der Kindheit oder Missbräuchen aller Art?“, will sie wissen. Kaum jemand im Land würde die Frage mit Ja beantworten.

21 Nov 2023

LINKS

[1] /Ermittlungen-gegen-Roger-Waters/!5937067
[2] /Umstrittene-Palaestinenserparole/!5969471
[3] https://www.jornada.com.mx/noticia/2023/11/10/opinion/hamas-israel-no-hay-humo-sin-fuego-4335
[4] https://www.excelsior.com.mx/opinion/esther-shabot/hamas-y-los-carteles-mexicanos/1619157

AUTOREN

Wolf-Dieter Vogel

TAGS

Kolumne Latin Affairs
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Lateinamerika
Hamas
Lateinamerika
Kolumne Latin Affairs
Kolumne Latin Affairs
Hamas
Shoa
Gaza
Kolumne Latin Affairs

ARTIKEL ZUM THEMA

Facebook, Whatsapp und X: Die gefährliche Allmacht von Social Media in Lateinamerika

Soziale Medien sind in Lateinamerika im Alltag praktisch unverzichtbar. Viele betrachten sie deshalb unbeschwert – trotz Desinformation.

Lateinamerika und Syrien: Assads Freunde

Die USA und „der Zionismus“ stecken hinter der Vertreibung Assads aus Syrien, sagt Venezuelas Propagandaministerium. Aus Kolumbien klingt es ähnlich.

Auftragssongs für Mexikos Drogenbosse: Peso Pluma schreibt fürs Kartell

Musiker Peso Pluma besingt Mexikos Narco-Bosse – und alle lieben ihn dafür. Fast alle. Denn der Drogenkrieg zieht auch an Pluma nicht vorbei.

+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Geisel-Abkommen greifbar?

Die Hamas behauptet, ein Waffenstillstand, durch den israelische Geiseln freikommen sollen, sei nah. Eine Bestätigung Katars oder Israels steht aus.

„Free Palestine from German Guilt“: Der Antisemitismus der Progressiven

Deutsche Obsession mit der Shoah blende palästinensisches Leid aus, behaupten Aktivist*innen. Sie selbst dämonisieren Juden als Weiße Kolonisatoren.

Essay zum Angriff der Hamas: Einfach weitermachen ist unmöglich

Seine genozidale Botschaft unterscheidet den 7. Oktober von früheren Angriffen auf Israel: Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Holocaust.

Antiimperialismus ohne Verstand: Lateinamerikas Linke feiern Hamas

Lateinamerikas Linke wettern gegen Israel: Boliviens Ex-Staatschef Morales und Kolumbiens Staatschef Petro disqualifizieren sich mit Statements zum Hamas-Angriff.