taz.de -- Literaturnobelpreis für Jon Fosse: Hoffentlich kein Backlash

Düsteres und lange Sätze: Nach Jahren der literarischen Horizontverschiebung hat sich das Komitee fürs Kulturreligiöse entschieden.
Bild: Literaturnobelpreisträger Jon Fosse

Jon Fosse ist ein Autor für die Leonard-Cohen-Momente des Lebens. Wenn draußen ein herbstlicher Wind weht, wenn die schweren Themen des Daseins um Liebe, Tod und Einsamkeit sich melden, wenn einem der Sinn nach Transzendentalem steht – „Alles, was ich schreibe, ist eine Art Gebet“, sagte er -, dann kann man sich gut in das Werk des [1][diesjährigen Literaturnobelpreisträgers] versenken und sich vom Sprachrhythmus seiner langen Sätze ohne Schlusspunkte trösten lassen.

Das ist keineswegs jedermanns Tasse Tee. Doch in sich sind Fosses mystischer Realismus und seine Verknappung der Ausdrucksmittel konsequent durchgeführt. Insofern lässt sich, knapp am Vorwurf des Reaktionären vorbei, der Nobelpreis schon begründen: Wenn schon Kulturreligion, dann so. Eine Spielart der Literatur wird in diesem existenziellen Virtuosentum auf den äußersten Punkt getrieben.

Doch es ist eben nur eine Spielart, und die aktuelle Vielheit literarischer Ansätze lässt sich keineswegs mit ihr an der Spitze hierarchisieren. Manche Beobachter versuchen das dennoch. Freudige Stimmen vermeldeten, dass das Nobelpreiskomitee die Kapriolen der jüngeren Vergangenheit (als angeblicher Tiefpunkt: 2016 Bob Dylan) hinter sich gelassen und zur reinen Lehre ernsthafter Literatur zurückgefunden habe. Offenbar sind die Reflexe nicht totzukriegen, Dunkles, Raunendes und Sprachspiele um „das Verschwiegene“ in einem fortgesetzten Geniekult als „eigentliche“, als „richtige“ Literatur zu werten und andere literarische Ansätze gleichzeitig abzuwerten.

Zur Erinnerung: 2022 bekam [2][Annie Ernaux], die die Autofiktion durchgesetzt hat, die Auszeichnung, 2021 Abdulrazak Gurnah mit seinen postkolonialen Epen. Was nach #meToo und vielen literarischen Horizontverschiebungen über Europa hinaus beides ein Momentum hatte. Und die Frage ist jetzt: Droht jetzt nach solchen Öffnungen ein Backlash?

Hoffentlich nicht. Er wäre nicht gut für den Literaturnobelpreis und auch nicht für die Literatur. Mit einigem Selbstbewusstsein kann man darauf verweisen, dass ihre Lebendigkeit gerade in den Erweiterungen des Horizonts und einer dringlichen Vielzahl der Sprecherpositionen und Perspektiven liegt. Als eine Farbe dieser Buntheit lassen sich die Beckett-Variationen und Glaubens-Exerzitien à la Fosse durchaus einordnen, neben Ernaux und [3][Gurnah] (und, ja doch, auch Dylan), nicht über ihnen. Insofern ist die Stockholmer Entscheidung für diesen Autor vielleicht sogar ein ganz guter Test darüber, wer im Literaturbetrieb den kulturreligiösen Genieglauben hinter sich gelassen hat und wer noch nicht. Nächstes Jahr dann aber sehr gern wieder einen anders gefärbten literarischen Ansatz.

6 Oct 2023

LINKS

[1] /Nobelpreis-fuer-Literatur/!5964716
[2] /Uebersetzerin-von-Annie-Ernaux/!5898612
[3] /Abdulrazak-Gurnah-Nachleben/!5885439

AUTOREN

Dirk Knipphals

TAGS

Literatur
Norwegen
Schriftsteller
Jon Fosse
Nobelpreis für Literatur
Weltliteratur
Norwegen
Annie Ernaux
Feminismus

ARTIKEL ZUM THEMA

Literaturnobelpreis an Han Kang: Überraschend, aber verdient

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang. Sie überzeugt mit poetischer Prosa.

Nobelpreis für Literatur: Der Sound des Unsagbaren

Seit Langem schon galt Jon Fosse als Favorit. Jetzt bekommt der Norweger den Literaturnobelpreis 2023. Trotzdem ist das Nicht-Gesagte ihm am Wichtigsten.

Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux: „Ich bin eine Frau, die schreibt“

Die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux über Vergangenheit, sozialen Aufstieg und das Schreiben als Prozess des Nachdenkens.

Vergabe der Nobelpreise: Ein Preis für manche

Immer noch bekommen vor allem alte weiße Männer Nobelpreise. Die Gründe, warum wenig Frauen und auch BPoC ausgezeichnet werden, sind fragwürdig.