taz.de -- Kinderbücher im Frühjahr: Gegen die Deppen des Waldes

Eva Lindström, Pija Lindenbaum und Enne Koens erzählen von Widerstand und Selbstbehauptung. Ihre neuen Werke ermutigen zum Nein.
Bild: Zeichnung aus Pija Lindenbaum: „Der erste Schritt“

Mit transparent überlagernden Aquarellfarben lässig skizziert, erzählt Eva Lindström in „Wir sind die Könige des Waldes, sozusagen“ von einer doch ernsten Situation. Denn auf der Versammlung im Gemeindehaus wurden die beiden Eichhörnchen und ihre Freundin, die Häsin, überstimmt. Die Befürworter der Jagd haben sich durchgesetzt. Mit der Ruhe im Wald wird es also bald vorbei sein.

Dabei lieben die Eichhörnchen den Frieden. In Ruhe wollen sie Gymnastik treiben und ihre Nüsse sortieren. Auf den folgenden Doppelseiten ziehen schon lärmende Jägerhorden durch den düsteren Wald. Ein Schuss hat die Häsin bereits am Ohr getroffen. Vor dem brennenden Kamin in ihrer gemütlichen Behausung verbinden die Eichhörnchen sorgfältig den verletzten Löffel.

Für ihr Gesamtwerk wurde die schwedische Bilderbuchkünstlerin Eva Lindström 2022 mit dem renommierten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) ausgezeichnet. Ihre mehrdeutigen Dialoge haben die Jury in Bild und Text begeistert. Auch in ihrem aktuellen Bilderbuch löst die 1952 geborene Illustratorin die Grenzen zwischen Mensch- und Tierwelt hintergründig und humorvoll auf. Der Wolf stapft in blauen Stiefeln der gemischten Jagdgesellschaft mit Bär hinterher. Ein Hund trottet auf vier Beinen vorne weg.

In berauschenden Farben gestaltet Lindström eigenwillige Räume und detailreiche Landschaften, die sie mit wenigen, ausdrucksstarken Zeilen zu einer facettenreichen Erzählung zusammenfügt. Maike Dörries hat den knappen Text sehr stimmig aus dem Schwedischen übertragen. Selbstbewusst verteidigen die Eichhörnchen darin ihren Lebensentwurf und halten mutig dagegen: „So denken wir über die Jäger: Sie sind die Deppen des Waldes.“

Parabel mit kuriosem Personal

Auch in „Der erste Schritt“, dem jüngsten Bilderbuch von Pija Lindenbaum, formiert sich kreativer Widerstand. Für ihre Parabel über Gerechtigkeit und Willkür ruft die in Stockholm lebende Illustratorin und Autorin ein überraschendes Szenario mit kuriosem Personal auf.

Inmitten einer idyllischen Berglandschaft leben in zwei großen Häusern mit roten und grünen Fensterläden die Kinder der Ringelblumen- und der Primelgruppe. Mädchen und Jungen – alle Kinder haben hier den gleichen Topfschnitt. Doch während die Ringelblumen die tollsten Sachen unternehmen – malen, segeln oder Krocket spielen – müssen die Primeln Kartoffeln schälen, Wäsche waschen oder Stiefel putzen. Die Schäfin bestimmt hier, wie es läuft – eine Hündin in anthropomorpher Gestalt mit langem Gewand, Trillerpfeife und der für Pastoren im Norden typischen Hamburger Halskrause.

Das weitläufige Gelände, das wie ein verlockender Abenteuerspielplatz erscheint, wird nur von einer weißen Linie begrenzt. Niemand darf diese überqueren, sonst schlägt womöglich der Blitz ein. „Hier auf unserer Seite geht es uns doch gut“, sagt die Schäfin. „Oder etwa nicht?“ Pija Lindenbaum schildert die ambivalenten Verhältnisse in kräftigen Farben, mit Witz und auf Augenhöhe. Spannend entwickelt sie die Widersprüche aus der Erzählperspektive eines der glücklichen Ringelblumen-Kinder.

“Hier macht alles Spaß“, stellt es gleich auf den ersten Seiten fest. Dass dies nicht für alle gilt, fällt ihm zunächst gar nicht auf. Schon lange trägt es heimlich ein blaues Armband, obwohl das den uniform gekleideten Kindern gar nicht erlaubt ist. Aber irgendwann [1][zweifelt es doch an der bestehenden Ordnung.] Unbemerkt stellen die Ringelblumen und die Primeln eines Nachts gemeinsam die Verhältnisse auf den Kopf. Kurz darauf verschwindet auch noch der unbeliebte Haarschneidetopf. Langsam verliert die Schäfin hier in den Bergen den Überblick.

Polderlandschaft im Sommer

In „Dieser Sommer mit Jente“, dem Roman der niederländischen Kinderbuchautorin Enne Koens, reicht die flache Polderlandschaft bis zum endlosen Horizont. Die reduziert in grau und gelb gestalteten Illustrationen von Martje Kuiper unterstreichen diese sparsame Umgebung atmosphärisch.

[2][Zu Beginn der Sommerferien] sind Marie und ihre Eltern in eine dort errichtete Neubausiedlung gezogen. Hier sind die Straßen schnurgerade und die Häuser sehen alle gleich aus. Überall wohnen nun junge Familien. Marie ist untröstlich. Sie vermisst ihr altes Viertel und ihre beste Freundin Zoé so sehr. Doch schon am zweiten Tag trifft sie auf Jente. 

Die Zwölfjährige ist einfallsreich, furchtlos und wild. Bald sehen sich die so unterschiedlichen Mädchen jeden Tag, erkunden ihr neues Terrain, spionieren in der Nachbarschaft oder suchen nach einer Moorleiche. An Jentes Seite scheint das Leben auf einmal abenteuerlich und wild. Verlässlich ist diese Freundschaft jedoch nicht. Schmerzhaft muss Marie erleben, wie die neue Freundin sie im Rausch um soziale Anerkennung hemmungslos verrät.

“Als blasse Stubenhockerin war ich hier angekommen. Damals brauchte ich mich noch nichts zu trauen, denn damals kannte ich Jente noch nicht,“ beschreibt Marie die eigene Wandlung der vergangenen drei Monate im Prolog. Rückblickend erzählt das Mädchen in Enne Koens einfühlsamen Roman von diesem letzten Sommer der Kindheit. Mühsam lernt Marie in dieser Zeit ihre eigenen Grenzen zu erkennen und mit einem Nein zu verteidigen.

1 Apr 2023

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AUTOREN

Eva-Christina Meier

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