taz.de -- Vinylbar in Berlin: Ein Gefühl von Tokio
Schallplattenhören ist eine kulturelle Aneignung. In der Bar Rhinoçéros in Prenzlauer Berg gibt es dazu noch eine japanische Note.
Eigentlich eine ganz normale Bar, denkt man sich, wenn man zur bereits etwas fortgeschrittenen Stunde das Rhinoçéros in Prenzlauer Berg in Berlin betritt. Die Gäste schnattern, trinken und es läuft sehr gute Musik. Und zwar die von Chico Buarques Frühsiebziger-Album „Construção“.
Das weiß man aber nicht, weil man etwa diese Shazam-App zur Musikerkennung benutzt hat oder gar einer der weltgrößten Auskenner der Música Popular Brasileira wäre, sondern weil das Album der Platte sichtbar am Tresen ausgestellt wird – wie eine Trophäe.
Wenn man sich dann weiter umschaut, wird einem klar, dass man sich doch nicht in einem x-beliebigen Absturzladen befindet, falls es so etwas im langweilig gewordenen Prenzlauer Berg überhaupt noch gibt, sondern in einer Vinylbar. Und um noch präziser zu sein: in einer [1][Jazz Kissa].
Diese gibt es sonst eigentlich nur in Japan, vor allem in Tokio. Sie befinden sich meist etwas versteckt in irgendwelchen Hinterhöfen und sind ziemlich speziell. Auf meist kleinstem Raum stehen monströse Vintage-Hi-Fi-Anlagen, mindestens eine Regalwand voll mit alten Jazzplatten und im Zentrum ein mächtiger Plattenspieler, auf dem ein Klassiker von Miles Davis oder Thelonious Monk läuft. Und die Gäste sitzen da, lauschen den prächtigen Klängen und saufen.
Bénédict Berna, der Betreiber des Rhinoçéros, hat dieses typisch japanische Barkonzept vor ein paar Jahren nach Berlin transferiert. Auch bei ihm dominieren mächtige Lautsprecher den Raum, alte Altec Lansing A7, um genau zu sein, und das sollte man in diesem Fall unbedingt, weil Jazz Kissas auch explizit Hi-Fi-Nerds ansprechen wollen.
Etwas enttäuschend ist, dass sich die Platte von Chico Buarque nicht auf dem wunderschönen Plattenspieler des nicht mehr existierenden japanischen Herstellers Micro Seiki dreht, den man auf der [2][Homepage der Kneipe] bewundern kann, sondern auf einem dieser DJ-Turntables von Technics. Berna, der gerade seine Gäste bedient und nebenbei der Vinyl-Selektor ist, entschuldigt sich und sagt, das liege daran, dass man vorher ausnahmsweise mal einen DJ im Haus hatte.
Jazz Kissa Berlin-Style
Das gehört bei ihm aber durchaus mit zum Konzept: Er betreibt zwar eine Jazz Kissa, jedoch auf seine Weise, Jazz Kissa Berlin-Style sozusagen.
Das heißt: Es läuft meist und vor allem Jazz, aber es darf dann eben auch mal ein Chico Buarque sein. Und da es ihm gerade so brasilianisch zumute zu sein scheint, legt er als nächstes Arthur Verocais einziges, selbstbetiteltes und wirklich großartiges MPB-Album von 1972 mit dieser Mischung aus Jazz, Folk und Bossa Nova auf.
An den Wänden prangen Schwarz-Weiß-Fotografien von Jazzgrößen wie Pharoah Sanders und Stanley Turrentine, so wie es sich gehört, aber auch eines von der Technogröße Jeff Mills, auf der dieser jedoch in Anzug und mit Krawatte aussieht wie ein Bebopper aus den späten Vierziger Jahren. Und dazu, dass in den japanischen Jazz Kissas die Gäste eigentlich immer bloß flüstern und die Musik mehr zählt als jede Unterhaltung, sagt Berna: Das möge schon so sein, das liege aber vor allem an der japanischen Mentalität. Und in japanische Jazz Kissas kämen vor allem Männer nach der Arbeit, um abschalten zu können. Zu ihm jedoch eben Berliner, die auf ihre Weise in einer Vinylbar abhängen wollen.
Wenn schon kulturelle Aneignung, könnte man auch sagen, dann wenigstens nicht so bierernst.
Wobei Berna einem dann noch einen Flyer in die Hand drückt für eine Veranstaltung aus seiner Reihe „Symposium for Jazzcats“. [3][Beim nächsten Termin] wird dabei Archie Shepps Free-Jazz-Klassiker „Fire Music“ aus dem Jahr 1965 aufgelegt. Da sei es mucksmäuschenstill seitens der Gäste, verspricht er, nur Shepps mächtiger Saxophonsound werde dann zu hören sein.
Via Vinyl natürlich. Und sicherlich auch wieder über den guten alten Plattenspieler von Micro Seiki.
4 Feb 2023
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