taz.de -- Studium und Klasse: Scham, Stolz, Studienabschluss
Unser Autor hat endlich sein Masterstudium erfolgreich beendet – nach 14 Semestern, mit 32 Jahren. Warum der Weg zum Abschluss so ein langer war.
Liebe Leser:innen, ich habe vor Kurzem einen wichtigen Lebensabschnitt beendet: mein Studium. Ich habe meine Masterarbeit (über [1][den Rapper Haftbefehl] und die psychologische [2][Anziehungskraft von Gangsta-Rap]) erfolgreich verteidigt und somit das Masterstudium der Politikwissenschaft abgeschlossen. Damit lasse ich nun den Lebensabschnitt hinter mir, der mein bisheriges Leben in [3][ein Vorher und Nachher] teilt, weil mit ihm wenig so geblieben ist, wie es einmal war.
Ein abgeschlossenes Studium? Ist das der Rede wert?, denken Sie jetzt vielleicht als Leser:in einer Zeitung, deren Leser:innen zum großen Teil Akademiker:innen sind (knapp 80 Prozent haben laut [4][einer Leser:innen-Befragung] im Jahr 2019 ein abgeschlossenes Studium). Für mich aber ist dieser Abschluss nicht selbstverständlich. Auch weil er einige Zeit in Anspruch genommen hat, mehr Zeit als bei anderen.
Es hat lange gedauert, weil ich im ersten Mastersemester ein Praktikum bei der taz gemacht habe und nach dem zweiten angefangen habe, hier zu arbeiten. Weil Studieren neben der Arbeit doch nicht so ein Selbstläufer gewesen ist, wie ich es mir bei meiner Entscheidung schöngeredet habe. Andererseits war die Entscheidung alternativlos: Was kann man mit deinem Studium später überhaupt anfangen!?
Besonders bedrohlich klingt diese Frage, wenn man der Erste in seiner Familie ist, der an einer Universität studieren darf, weshalb man diese Chance auf keinen Fall verspielen darf; und [5][wenn man von Bafög abhängig ist, das früher als später ausläuft], man keine finanziellen Rücklagen und auch kein Erbe in Aussicht hat. Also: Ja, klar, gib Arbeit!
Du musst das durchziehen, Junge!
Das mit dem Job lief zum Glück ganz gut, auch ohne Master (hätte anders laufen können). Das Studium konnte ich trotzdem nicht aufgeben (Hallo!? Du bist der Erste, du musst das doch zu Ende bringen, Junge!). Du musst also das Studium durchziehen, aber du kannst dich nicht wirklich auf das Studium verlassen, weshalb du früher als andere Arbeit finden und Geld verdienen musst.
Irgendwann habe ich nicht mehr darüber gesprochen, dass ich noch an der Uni eingeschrieben bin. Bis auf wenige Ausnahmen wussten nur enge Freund:innen davon, dass ich eine Masterarbeit schreibe. Auf die erfolgreiche Verteidigung habe ich nur mit einem Freund angestoßen. Später kamen noch kurzfristig und zögerlich Eingeladene dazu. Ich habe mich dafür geschämt, dass ich den Master nicht wie andere mit 25, sondern mit 32 Jahren abschließe. Dabei gibt es keinen Grund, sich weder für ein spät abgeschlossenes noch für ein nie angefangenes oder abgebrochenes Studium zu schämen.
Weil ich das jetzt erst verinnerlichen kann, möchte ich an dieser Stelle, an der es oft um Enttäuschung und Wut darüber geht, warum ein Studium für manche Menschen selbstverständlich ist und für andere eben nicht, auch einmal ein anderes Gefühl mit Ihnen teilen: den Stolz darüber, dass ich es nach 14 Semestern endlich zu Ende gebracht habe.
17 Feb 2023
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Bei der Urlaubsplanung plagt unseren Autor ein schlechtes Gewissen: Lebt er über seinen Verhältnissen? Oder ist das die Verinnerlichung der Klassenherrschaft?
In Debatten über Arbeitsmoral wird oft ein Konflikt zwischen Alt und Jung behauptet. Das lenkt davon ab, dass es eigentlich um Reich und Arm geht.
Wer als Kind ein Zimmer teilen musste, kennt die Dialektik des Zusammenwohnens: Was Geborgenheit gibt, das hat auch Schattenseiten.
Aufstiegsgeschichten sind beliebt. Doch wer aufsteigt, gewinnt nicht nur, sondern verliert auch viel. Die Entfremdung von den eigenen Leuten schmerzt.
Im Buch „Soziologie des Gangstarap“ analysiert Martin Seeliger das Genre als gesellschaftliche Suche zwischen Ungleichheitskritik und Regression.
Wer von einem Ort kommt, an dem weder gelesen noch geschrieben wurde – für den ist es nicht selbstverständlich, das Wort zu ergreifen.