taz.de -- Messerattacke in Zug bei Brokstedt: System U-Haft ist gemeingefährlich

Wer als staatenloser Ausländer aus langer U-Haft entlassen wird, hat ein doppeltes Problem: keine Vorbereitung auf die Entlassung, kaum Hilfe draußen.
Bild: Zeichen der Trauer: Kerze auf dem Bahnsteig in Brokstedt

Der Messerangriff im Zug beim schleswig-holsteinischen Brokstedt verweist auf schwierige Probleme, sowohl bei der Untersuchungshaft als auch beim Umgang mit straffälligen Ausländern. Sich dieser Defizite anzunehmen, könnte helfen, ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern.

Bei dem [1][Vorfall in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg hatte ein staatenloser Palästinenser am Mittwoch zwei junge Menschen erstochen und fünf weitere zum Teil lebensgefährlich verletzt]. Nur sechs Tage zuvor war der mutmaßliche Täter aus einer einjährigen Untersuchungshaft in Hamburg entlassen worden. Dort saß er, weil ihm ebenfalls ein Messerangriff vorgeworfen worden war.

[2][Dass der Mann ohne Vorbereitung auf die Straße gesetzt wurde], hat mit den Besonderheiten der U-Haft zu tun. Ibrahim A. war nicht rechtskräftig verurteilt, aber eben auch nicht freigesprochen. Solange sein Fall in der Schwebe blieb, musste er wegen Fluchtgefahr in Haft bleiben – allerdings keinesfalls länger als die allenfalls anstehende Haftstrafe. Das führte dazu, dass er nach einem Jahr Knall auf Fall entlassen werden musste. Vorbereitung? Fehlanzeige!

Zuzugestehen ist der Justizverwaltung, dass sie bei der U-Haft meist nicht weiß, wann der Häftling frei kommt. Im Fall von Ibrahim A. hätte sie allerdings, spätestens als sich abzeichnete, dass die U-Haft die Dauer der möglichen Strafhaft erreichen würde, mit Entlassungsvorbereitungen beginnen können. Das gilt besonders für einen Menschen ohne Obdach und möglichen psychischen oder Suchtproblemen.

Eine einjährige Untersuchungshaft ist an sich schon ein Unding. Vom Staat ist zu fordern, dass er sich dann wenigstens nach [3][Standards um die Menschen kümmert, die aus guten Gründen für die Strafhaft gelten.]

Das wäre allerdings nur die halbe Miete, wenn der Entlassene dann draußen durch die Maschen des Hilfesystems fällt. Einem [4][Staatenlosen mit unsicherem Aufenthaltsstatus] sind viele Hilfsangebote verschlossen. Am Ende landet einer wie Ibrahim A. dann wieder vor einer Notunterkunft, wo er dann womöglich schon Hausverbot hat – also auf der Straße.

Es wäre an der Zeit, einen pragmatischeren Umgang mit Menschen zu finden, die nicht abgeschoben werden können, also faktisch hier im Land bleiben werden. Davon hätten alle was, die Inländer wie die Ausländer.

26 Jan 2023

LINKS

[1] /Messerangriff-in-Zug-bei-Brokstedt/!5908092
[2] /Attacke-in-Zug-bei-Brokstedt/!5908039
[3] https://www.hamburg.de/bjv/justizvollzug/11078696/resozialisierung/
[4] /Vorwuerfe-gegen-Auslaenderbehoerde/!5884824

AUTOREN

Gernot Knödler

TAGS

Gewalt
Messerangriff
Messerattacke
Justiz
Haft
Haft
Messerangriff
Messerattacke
Messerangriff
Polizei Schleswig-Holstein
Schleswig-Holstein
Messerangriff
Nancy Faeser

ARTIKEL ZUM THEMA

Wie weiter nach der Haftentlassung?: Der schwierige Weg zurück in die Freiheit

Nach einer Haftstrafe wieder in die Freiheit entlassen zu werden, ist eine große Herausforderung. In Bremen gibt es ein Netzwerk, das dabei hilft.

Zwei Tote in Zug nahe Brokstedt: Anklage wegen Messerangriff

Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Ibrahim A.. Ihm wird vorgeworfen, Anfang 2023 zwei Personen in einem Zug nahe Brokstedt erstochen zu haben.

Nach Messerattacke in Zug bei Brokstedt: Angreifer faselte von Anis Amri

Der Mann, der zwei Menschen tötete, soll sich in seiner U-Haft mit einem Attentäter verglichen haben. Hamburgs Justizsenatorin hat das verschwiegen.

Hamburg diskutiert Messerattacke: Ein tödlicher Mensch

Hamburgs Bürgerschaft diskutiert über Messerangreifer von Brokstedt: Wie kam es dazu, dass er frei herumlief? Justizsenatorin muss sich rechtfertigen.

Attacke in Zug bei Brokstedt: Messerstecher kam aus der U-Haft

Der Mann, der zwei Menschen erstochen haben soll, war gerade aus der U-Haft entlassen worden – offenbar unvorbereitet und in die Obdachlosigkeit.

Messerangriff in Zug bei Brokstedt: Lauter offene Fragen

Die Messerattacke in einem Regionalzug nahe Brokstedt sorgt für Entsetzen. Das Motiv bleibt unklar. Ähnliche Taten aber gab es zuvor schon.

Messerattacke zwischen Kiel und Hamburg: Ermittlungen nach Angriff in Zug

Mittwoch starben bei einem Messerangriff in einem Zug bei Brokstedt zwei Menschen. Der mutmaßliche Täter soll polizeibekannt und womöglich verwirrt sein.

Messerattacke in Baden-Württemberg: Entsetzen nach Tod von 14-Jähriger

In Baden-Württemberg stirbt ein Mädchen nach einem Messerangriff, ein Geflüchteter wird verdächtigt. Die AfD instrumentalisiert die Tat sofort.