taz.de -- Sturm auf die Parlamente: Angriff der Gegendemokratie

Parlamente in den USA, Deutschland und Brasilien wurden angegriffen. Was bedeutet es, wenn eine ursprünglich demokratische Geste ins Gegenteil verkehrt wird? Die Gegendemokratie hat sich verändert.
Bild: Brasília Anfang Januar: Anhänger von Brasiliens Ex-Präsidenten Bolsonaro beim Sturm auf den Kongress

Als am 8. Jänner Tausende Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro Regierungsbauten in Brasilia stürmten, war das ein Déjà-vu. Schon gesehen wurde es fast auf den Tag genau vor zwei Jahren – am 6. Jänner 2021 beim Washingtoner „Sturm aufs Kapitol“. Dieser hat nun eine Art Reenactment erfahren – eine Wiederaufführung, eine Re-Inszenierung.

Ein Déjà-vu hat man aber auch schon in Europa haben können. Etwa bei der Querdenker-Demonstration 2020 in Berlin, wo ein Sturm auf den Reichstag schon auf dessen Stufen endete. Auch bei [1][der kürzlich inhaftierten Reichsbürgergruppe] kursierten solche Vorstellungen – hier blieb es bei Fantasie und Plan. Insgesamt kann man aber sagen: Es gibt ein wiederkehrendes Muster, das sich in Brasilien nun in einer krassen Variante zeigte.

Wie bei all diesen Versuchen blieb man auch diesmal perplex zurück: Kann denn irgendjemand glauben, dass so ein Staatsstreich funktioniert? Kann irgendjemand glauben, dass solcherart ein Putsch gelingen könnte? In Brasilien waren noch nicht einmal Politiker am Ort des Geschehens. Es war Sonntag. Worum geht es dabei also?

Das Volk stürmt den Ort der Macht

Viele Kommentatoren sprachen von einem Fake-Putsch, von einer Umsturzgeste, die auf Demütigung, nicht auf Eroberung der Macht zielte. Ein anarchisches Spektakel, das eingängige Bilder produzierte.

Aber die Vorstellung eines Spektakels bleibt äußerlich. Damit erfasst man nicht, was diese Leute angetrieben und getrieben hat. Angetrieben sind sie von Politikern ebenso wie von Verschwörungsfantasien – getrieben zu etwas, was nicht nur ein Fake, eine Geste ist, sondern der reale Vollzug eines symbolischen Akts.

Das Paradoxe daran ist: Dieser symbolische Akt ist die Re-Inszenierung eines viel älteren Originals. Er ist gewissermaßen die Wiederaufführung einer demokratischen Urszene: Das Volk stürmt den Ort der Macht. Aber die Neuinszenierung weist deutliche Unterschiede auf. Richtete sich die historische Szene gegen eine monarchische Macht mit dem Ziel, Demokratie herzustellen, so ist es heute genau umgekehrt. Das ganze symbolische Arsenal an aufgeladenen Gesten, Parolen, Szenerien wird nun gegen die Demokratie aufgefahren.

Ungeniert auf Amtssesseln lümmeln

Die Urszene wird gezielt als Überschreitung der Demokratie inszeniert. Dazu gehört wesentlich das ostentativ ungenierte Lümmeln auf Amtssesseln – nicht nur als Eindringen, sondern auch als Einnehmen des Sitzes der Macht. Physisch und symbolisch zugleich. Oder eine Kopie der Verfassung mitnehmen und sie johlend zur Schau stellen. Wie das Entweihen einer Reliquie. Eine Schändung der Demokratie gewissermaßen – was aber nur möglich ist, wenn diese zum Heiligtum erstarrt ist. Es geht also um Blasphemie, bei der demokratische Formen als Gegendemokratie aufgefahren werden.

Auch diese Gegendemokratie hat sich verändert. Ursprünglich bezeichnete der französische Theoretiker Pierre Rosanvallon eine aktive Zivilgesellschaft, die sich als Korrektiv der Politik verstand, als Gegendemokratie. Das meinte eine produktive Institutionalisierung von Misstrauen. Das genuin demokratische Konzept einer Kontrolle der Macht.

Die Gegendemokratie, die sich heute breitmacht, ist aber anderer Art. Ihr geht es nicht um eine Verbesserung, sondern um eine Störung. Nicht um Einspruch, sondern um Angriff. Nicht um eine Demokratisierung der Demokratie, sondern um deren Unterminierung. Von zwei Seiten.

Von oben – etwa durch das Nichtakzeptieren eines Wahlausgangs. Der unbelegte Betrug, der unbewiesene Zweifel, der sich ganz technisch gibt, untergräbt ganz gezielt das Verfahren als solches. Begleitet wird diese Art des gegendemokratischen Vorgehens durch das, was man wohl in Zukunft immer wieder erleben wird: durch eine Unterminierung von unten. Durch das Aufführen eines antidemokratischen Aufbegehrens in ehemals demokratischen Formen. Das macht die Abwehr umso schwieriger. Auf welches Pathos soll diese sich berufen?

24 Jan 2023

LINKS

[1] /Der-Wahn-der-Reichsbuerger/!5901306

AUTOREN

Isolde Charim

TAGS

Knapp überm Boulevard
Rechter Populismus
Demokratie
Brasilien
Demokratie
Knapp überm Boulevard
Jair Bolsonaro
Knapp überm Boulevard
Berufspolitiker
Rechtsextremismus
Jair Bolsonaro
Kunst
Knapp überm Boulevard

ARTIKEL ZUM THEMA

Polarisierung der gesellschaftlichen Mitte: Nur die Spur von Objektivität

Nicht die Krise spaltet eine Gesellschaft, sondern der Umgang mit ihr. Wo erstes Misstrauen gegen Maßnahmen der Politik auftaucht, setzt der Bruch an.

Jair Bolsonaro wieder in Brasilien: Der abgewählte Messias ist zurück

Nach gut drei Monaten in den USA kehrt Brasiliens rechtsextremer Ex-Präsident ins Land zurück. Dort erwarten ihn einige Verfahren.

Corona-Aufarbeitung in Österreich: Zaubertrick eines hörigen Kanzlers

Mittlerweile weiß man, nicht jede Coronamaßnahme war sinnvoll. Österreichs Regierungschef versucht sich nun gegen „die da oben“ zu positionieren.

Ausschreitungen in Grevesmühlen: Angriff auf die Demokratie

Die Ausschreitungen in Mecklenburg-Vorpommern lassen düstere Assoziationen aufkommen. Ein „Reichsbürger“ hatte sich zuvor Zugang zur Kreistagssitzung verschafft.

Protest gegen Geflüchtetenunterkunft: Ausschreitungen vorm Kreistag

Bei einem Protest gegen eine Geflüchtetenunterkunft wollen Demonstrierende eine Kreistagssitzung stürmen. Darunter Rechtsextreme.

Nach den Ausschreitungen in Brasilien: Lula und Justiz greifen durch

Präsident Lula entlässt mindestens 40 Militärs wegen ihrer Rolle beim Sturm auf Brasília. Gegen Randalierer sind erste Anklagen erhoben worden.

Künstlerin über Mobiliar als Träger von Politik: „Sie zerstörten ihr eigenes Haus“

Ob beim Sturm auf das Kapitol oder das Parlament in Brasília: Möbel können Demokratiegegnern als Waffe und Trophäe dienen, sagt Henrike Naumann.

Der Wahn der Reichsbürger: Das Problem reicht viel weiter

Die Reichsbürger-Gruppe mag wirr und skurril erscheinen. Doch sie ist eine ernsthafte Gefahr – und über ihre Pläne hinaus als Symptom zu betrachten.