taz.de -- Russlands Angriff auf die Ukraine: Eskalation im Kampf der Worte

Russland will nicht mehr nur den Osten und Süden der Ukraine erobern. Stattdessen spricht das Land indirekt von ihrem „Verschwinden“.
Bild: Aufnahme aus Charkiw nach russischem Angriff am 21. Juli 2022

Berlin taz | Während schwere Gefechte an den Kriegsfronten im Osten und Süden der Ukraine weitergehen und zivile Ziele von Russland bombardiert werden, verschärft sich Russlands Rhetorik auf gefährliche Weise. Am Mittwoch schon hatte Außenminister Lawrow eine Ausweitung der russischen Kriegsziele angekündigt: Es gehe nicht mehr nur um den Donbass und die südukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja, sondern auch um „eine Reihe anderer Territorien“, sagte er im TV-Sender RT. „Dieser Prozess geht weiter, er geht folgerichtig und mit Nachdruck weiter.“

Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats in Moskau, legte am Donnerstag nach. Er veröffentlichte auf Telegram eine Liste von Dingen, an denen Russland „nicht schuld“ sei.

Keine Schuld trage Russland demnach dafür, „dass es den gewöhnlichen Europäern in diesem Winter in ihren Häusern bitterkalt sein wird“, „dass die Amerikaner zu ihrem Präsidenten einen seltsamen Großvater mit Demenz gewählt haben“. Und, was für Aufsehen sorgte: Russland trage keine Schuld daran, „dass die Ukraine infolge all dessen, was passiert, die Überreste staatlicher Souveränität verlieren und von der Weltkarte verschwinden könnte“.

Insbesondere die Lawrow-Äußerung wurde von der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten als klare Drohung mit einer Ausweitung des Krieges verstanden. Zuletzt hatten manche Politiker gemutmaßt, dass Russland sich mit dem Osten und Süden der Ukraine zufriedengeben werde. Auf dieser Grundlage schlug Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer vor wenigen Tagen ein „Einfrieren“ des Konflikts vor.

Auch Alexander Lukaschenko, der putinnahe Diktator von Belarus, sagte am Donnerstag in einem AFP-Interview: „Wir müssen aufhören und ein Abkommen schließen, um dieses Chaos, diesen Einsatz und den Krieg in der Ukraine zu beenden“. Es drohe der „Abgrund eines Atomkrieges“. Er rief die Ukraine auf, „sich an den Verhandlungstisch zu setzen und zuzustimmen, dass sie Russland niemals bedrohen wird“.

USA glauben nicht an militärischen Durchbruch Russlands

[1][Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine] hatte es bereits im ersten Kriegsmonat gegeben, bis hin zu einem Außenministertreffen in der Türkei. Nach Russlands Rückzug aus dem Umland von Kiew und dem Fund [2][Hunderter ziviler ukrainischer Opfer] dort hatte Moskau die Gespräche aber abgebrochen.

„Russland verwirft die Diplomatie und ist auf Krieg und Terror konzentriert“, schrieb Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba jetzt. Kremlsprecher Dmitri Peskow reagierte darauf mit der Erkärung, es gebe „offene Türen“ für Gespräche mit der Ukraine.

Großbritannien und die USA, die beiden wichtigsten Militärverbündeten Kiews, bauen in Reaktion auf Lawrows Äußerung ihre Militärhilfe für die Ukraine deutlich aus. Die britische Regierung kündigte am Donnerstag umfangreiche neue Artillerielieferungen an. Der Stabschef der US-Luftwaffe, General Charles Brown, brachte auf einer Sicherheitskonferenz am Mittwoch die Lieferung westlicher Kampfjets ins Gespräch.

Die Regierungen in Washington und London glauben nämlich, dass Russland nicht zu einem militärischen Durchbruch in der Lage ist. Russland sei in der Ukraine „gescheitert“, sagte US-Generalstabschef Mark Milley am Mittwoch vor Journalisten. Aktuell finde ein „Stellungskrieg“ statt, in dem Russland trotz massiver Angriffe nur kleine Erfolge erziele – „in 90 Tagen vielleicht sechs bis zehn Meilen, das ist nicht sehr viel“.

21 Jul 2022

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Dominic Johnson

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