taz.de -- Günter Wallraff über Julian Assange: „Ein Tod auf Raten“

Günter Wallraff sieht starke Parallelen zwischen dem Wikileaks-Journalisten Julian Assange und dem russischen Dissidenten Alexei Nawalny.
Bild: Günter Wallraff setzt sich seit Jahren für die Freilassung von Assange ein, Pressekonferenz 2020

taz Panter Stiftung: Herr Wallraff, warum setzen Sie sich seit Jahren [1][für Julian Assange] ein?

Günter Wallraff: Zum einen, weil Assange es mit WikLeaks wie kein anderer geschafft hat, den Enthüllungsjournalismus in der digitalen Welt zu etablieren. Zum anderen, weil WikiLeaks und er sich in die Zentren der Macht vorgewagt und Kriegsverbrechen der USA öffentlich gemacht haben, die wir uns in Ausmaß und Detailliertheit so nicht hätten vorstellen können. Endgültig mobilisiert hat mich die gnadenlose Verfolgung, die Assange seit zwölf Jahren erdulden muss.

Ich fühle mich immer den Menschen verbunden, die auf einmal als Inbegriff des Bösen und Verwerflichen hingestellt werden und an denen Rufmord im wortwörtlichen Sinne begangen wird. Dann betreibt die CIA als mächtigster Geheimdienst der Welt noch gezielte Desinformation und erpresst einen Straftäter als Kronzeugen zu Falschaussagen.

Assanges Fall ist wie aus einem Lehrbuch für Geheimdienste. [2][Das Verfahren gegen ihn] wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens ist längst eingestellt – doch die öffentliche Meinung wurde weiter manipuliert. So wurde er zum Aussätzigen, zum egozentrischen Dämon, zum Monster fabriziert. Das hat auch Menschen abgeschreckt, die WikiLeaks mit Sympathie gegenüberstanden.

Sie auch?

Ja, das irritiert erst mal. Doch ich hatte Kontakt zu seinem Vater, John Shipton, und zu Nils Melzer, dem UN-Sonderbeauftragten für Folter. Er hatte Assange zuvor aufgesucht und bei ihm Symptome festgestellt, die auf Psychofolter insbesondere durch Isolation deuteten. Melzer stufte Assanges Gesundheitszustand als lebensbedrohlich ein.

Sie haben dann Prominente aus Kultur und Politik dazu gebracht, sich im Februar 2020 für die Freilassung von Assange auszusprechen?

Ende 2019 kontaktierte ich Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister, der sich seit jeher vorbildlich für Menschenrechte einsetzt, und Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Beide konnte ich von einem Engagement für Assange überzeugen. Im Rahmen der Bundespressekonferenz haben wir Assanges Schicksal wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt und gleichzeitig eine ganzseitige Anzeige in einer großen deutschen Zeitung geschaltet.

Den Appell haben weit über hundert Personen des öffentlichen Lebens unterzeichnet, etwa Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die heutigen Bundesminister Robert Habeck, Cem Özdemir und Karl Lauterbach, aber auch acht Ex-Bundesminister und -ministerinnen, drei von ihnen Justizministerinnen.

Im Sommer 2021 haben Sie einen Brief an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel initiiert und sie anlässlich ihres Besuchs bei US-Präsident Biden aufgefordert, den Fall Assange zur Sprache zu bringen.

Dieser Aufforderung haben sich 120 prominente Unterstützer angeschlossen.

Das hat nicht gereicht. Inzwischen sitzt Assange seit über drei Jahren im Belmarsh-Hochsicherheitsgefängnis Ihrer Majestät …

… wo ansonsten Terroristen und gemeingefährliche Mörder einsitzen. Außerdem war er zuvor schon sieben Jahre in Ecuadors Botschaft seiner Freiheit beraubt, wo die Gespräche mit seinen Anwälten und Ärzten abgehört und die Mitschnitte an die CIA gegeben wurden. Seit zehn Jahren ist er zunehmend isoliert. Er steht dem Willen gegenüber, ihn psychisch zu vernichten. Ich habe das Gefühl, man spielt auf Zeit. Er soll einen Tod auf Raten sterben.

Weil er den Tod anderer durch US-Soldaten dokumentiert hat?

Assange war es, der 2010 die Kriegsverbrechen von US-Seite im Irak und in Afghanistan offenlegte: tausendfache Folter und schon damals 15.000 mehr von der US-Armee getötete Zivilisten als offiziell bekannt war.

Assange offenbarte mit dem sogenannten Collateral-murder-Video das mordlüsterne, makabre Handeln des US-Militärs: US-Soldaten massakrieren aus einem Hubschrauber heraus in Bagdad mehr als ein Dutzend Menschen, darunter zwei Reuters-Journalisten. Als ein Minibus neben den Verletzten hält, um sie zu retten, wird auch der Retter gezielt erschossen. Seine zwei Kinder überleben schwer verletzt. Die Soldaten feuern sich gegenseitig an, als wäre es ein Videospiel.

Die Mörder wurden nie vor Gericht gestellt, vielmehr ist Assange wegen Spionage angeklagt. Ihm droht eine Höchststrafe von 175 Jahren Haft.

Warum wollen Ihrer Meinung nach die US-Geheimdienste und nicht nur der frühere US-Präsident Donald Trump, sondern auch Joe Biden Assange lebend im Gefängnis begraben?

Hier soll ein Exempel statuiert werden: Wer öffentlich macht, was US-Regierung, US-Militär und ihre Geheimdienste an Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen für geheim erklärt haben, kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Whistleblower und Journalisten sollen abgeschreckt werden. Dies gilt auch für die Verfolgung des Ex-CIA-Mannes Edward Snowden, der in Moskau im Exil festsitzt, nachdem er die weltweite Massenüberwachung im Internet durch US-Geheimdienste öffentlich gemacht hat.

Sie selbst haben jahrelang ausbeuterische Arbeitsverhältnisse enthüllt wie auch den Zynismus in der Bild-Redaktion. Wie sehen Sie Ihre journalistische Praxis im Vergleich zu der von WikiLeaks?

In einem Aspekt steht mir Assange sehr nahe. Es geht darum, Dinge aufzudecken, die mächtige Interessen verheimlichen. Wobei er in die politischen Machtzentren eindringt, zum Beispiel ins Hauptquartier der CIA, und ich mich nach unten Situationen aussetze, die verborgen bleiben sollen. Assange macht es im Großen, ich im Kleinen.

Hat er deshalb wesentlich schärfere Konsequenzen zu ertragen als Sie?

Auf jeden Fall. Ich kann mich nicht beklagen. Ich wurde in Deutschland zwar von Geheimdiensten überwacht, musste aber für meine Aktionen nie ins Gefängnis. Das passierte in anderen Ländern, etwa in Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur. Hier leben wir in einem Rechtsstaat: So hat der Bundesgerichtshof meine Recherchemethoden auch gegen einen übermächtigen Gegner wie den Springer-Verlag in der sogenannten Lex Wallraff mit der Begründung bestätigt: Geht es um gravierende Missstände, hat die Gesellschaft ein Recht, darüber informiert zu werden, auch wenn diese Informationen durch Täuschung erlangt wurden.

Als Bundestagsabgeordnete hat Annalena Baerbock im letzten September die „sofortige Freilassung“ von Julian Assange gefordert, als Bundesaußenministerin schwieg sie wochenlang beharrlich, dann erklärte sie: „Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln.“

Traurig. Wenn es um die Pressefreiheit und Menschenrechte geht, sollten Politiker in Regierungsverantwortung zu ihrer eigenen Meinung stehen.

Als Alexei Nawalny in Russland verhaftet wurde, ging hierzulande ein Aufschrei durch Politik und Medien. Warum gilt Nawalny hier als Held im Kampf um Meinungsfreiheit und Assange als dubioser Spion?

Für mich sind Menschenrechte unteilbar. Da folge ich Heinrich Böll, der mit seinem Engagement für Menschenrechte ein Vorbild ist. Im letzten Jahr habe ich vorgeschlagen, Navalny und Assange gemeinsam den Friedensnobelpreis zu verleihen.

Ich halte sie für zentrale Pole in ihrem jeweiligen System, an denen sich zeigt, wie diktatorische Regime, aber auch formale Demokratien wie die USA zurückschlagen, wenn unangenehme Wahrheiten offengelegt werden. Das wäre ein wirkmächtiges politisches Signal. Denn wenn die beiden den wohl wichtigsten politischen Preis überhaupt erhielten, wäre es für das westliche wie das östliche Lager viel schwerer, der jeweils anderen Seite demokratisches Fehlverhalten vorzuwerfen und sich zugleich selbst als Vollstrecker von Recht und Ordnung zu inszenieren.

Assange wie Nawalny müssten in der Folge allein nach rechtsstaatlichen Kriterien beurteilt werden. Was natürlich hieße: Beide müssten frei kommen und ihre wichtige Arbeit wieder aufnehmen. Beide stehen seitenverkehrt für die gleiche Sache: Sie kämpfen für Transparenz und Demokratie und gegen Korruption, Willkür und Machtmissbrauch.

Kann man etwas dafür tun, damit Julian Assange freikommt?

An Verantwortliche schreiben, auch ihm schreiben, damit er sieht, dass er nicht allein ist. Man muss etwas tun, auch wenn mit dem Ukrainekrieg alles infrage gestellt wird und Verletzungen der Pressefreiheit wie bei Assange in den Hintergrund gedrängt werden. Mutige Journalisten wie Assange werden in Zeiten des Krieges besonders gebraucht.

Dieser Text ist Teil einer Beilage der taz Panter Stiftung und von Reporter ohne Grenzen in der taz vom 3. Mai 2022, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit.

2 May 2022

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AUTOREN

Michael Sontheimer

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