taz.de -- Der Fall Harald Martenstein: Löschen ist feige
Kommentatoren wie Martenstein gehören zu einer offenen Debattenkultur. Man kann sich an ihnen reiben und die eigenen Argumente schärfen.
Der Kolumnist und Schriftsteller Harald Martenstein hat im Berliner Tagesspiegel einen Meinungstext verfasst, der der Chefredaktion im Nachhinein peinlich ist. Sie tut dann etwas, das ein Schlag ins Gesicht der Meinungsfreiheit ist: [1][Sie löscht die Kolumne.] Debatte beendet.
Was war so schlimm an der Kolumne, dass sie verschwinden musste? [2][Martenstein hat geschrieben], dass die gelben Sterne, die Ungeimpfte auf Demos tragen, dumm, geschichtsvergessen und für Überlebende schwer zu ertragen seien. Doch es handle sich nicht um Antisemitismus, denn sie identifizierten sich ja mit verfolgten Juden.
Ich bin überhaupt nicht seiner Meinung, schon weil diese Proteste aus dem rechten politischen Kontext gerissen werden, in dem sie stattfinden. Doch die Frage zu stellen, ob die [3][verschwurbelten „Querdenker“ mit ihrem Missbrauch des „Judensterns“] nicht im Grunde dasselbe tun wie jene, die Trump mit Hitler gleichsetzen oder Anti-Islamophobie-Demonstrant*innen, die auch schon „Judensterne“ getragen haben – diese Frage muss erlaubt sein in einer pluralistischen Gesellschaft.
Den Text zu löschen ist deshalb feige. Man kann umstrittenen [4][Kolumnen] auch eine Distanzierung der Chefredaktion voranstellen, ja, sogar eine Entschuldigung. Man kann die Kolumne einbetten in eine Reihe von anderen Meinungstexten, die Martenstein seine Argumente um die Ohren hauen. Aber löschen sollte man sie nicht.
Kommentator*innen wie Martenstein gehören zu einer offenen Debattenkultur, denn man kann sich an ihnen reiben und die eigenen Argumente schärfen. Schließlich führen Meinungsmachende die Debatte stellvertretend für die Leser*innen. Und wer wollte bestreiten, dass nicht mittige Teile der Gesellschaft so denken wie Martenstein?
Dennoch hat die Chefredaktion zur Löschtaste gegriffen und dem Autor damit im Grunde keine Wahl gelassen, als selbst zu gehen. Nach einem halben Leben beim Tagesspiegel ist das auch menschlich betrachtet keine Glanzleistung.
20 Feb 2022
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