taz.de -- Grüner Zoff um Ministerposten: Abstreifen von Vorsitzenden
Cem Özdemir wird Minister, Toni Hofreiter muss weichen. Viele Parteilinke werden das nur schwer verzeihen. Die Grünen Flügel schlagen wieder.
Es gibt in der Politik wenige Floskeln, die so geradezu provokant gelogen sind, wie die Behauptung: „Wir reden erst über die Inhalte, dann über Personal“. Die Grünen können das besonders weihevoll sagen.
Erstaunlicherweise haben die Grünen seit der Bundestagswahl aber offenbar wirklich nicht übers Personal geredet – jedenfalls nicht abschließend. [1][Der außerordentliche Krach], den es am Donnerstag über die grünen Ministersessel in der künftigen Ampel-Regierung gab, lässt nun mehrere Deutungen zu.
Möglicherweise wollten sich die Grünen im ritterlichen Kampf um die Inhalte des Koalitionsvertrags ja tatsächlich nicht mit persönlichen Ressortvorlieben einiger weniger belasten. Ein klein wenig wahrscheinlicher ist allerdings, dass der Stunt zugunsten von Cem Özdemir durchaus geplant war. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass zwar pausenlos über Personen gesprochen wurde, nur eben nicht offen, nicht mit allen – und ganz sicher nicht ehrlich mit den beiden Fraktionsvorsitzenden.
Toni Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt [2][müssen weichen], damit Cem Özdemir ins Kabinett einrücken kann. Das heißt nicht, dass Özdemir so viel wiegt wie zwei Grüne. Mit der Bitte um Entschuldigung für verkürzte Zuschreibungen: Die Logik dahinter lautet, dass ein Mann vom rechten Flügel nicht einen Mann vom linken Flügel ersetzen kann, ohne dass eine rechte Frau durch eine linke Frau ersetzt wird. Weil also Özdemir statt Hofreiter Landwirtschaftsminister werden soll, muss Anne Spiegel, Vize-Ministerpräsientin in Mainz, statt Göring-Eckardt Familienministerin werden.
Konflikt mit Folgen
Und wenn Sie jetzt meinen: Gut, die Grünen haben es geschafft, einen Deutschtürken in die ansonsten rein kartoffeldeutsche Regierung zu schicken – aber wo bleibt jetzt die Ostfrau? Nun, deshalb bekommt Steffi Lemke, die frühere Bundesgeschäftsführerin aus Sachsen-Anhalt, das Umweltministerium.
Lemke war 2013 nach der mies gelaufenen Bundestagswahl zusammen mit Jürgen Trittin – „die Parteilinken sind an allem schuld!“ – vom grünen Hof gejagt worden. Um nun gleich beide Fraktionsvorsitzende abzustreifen, scheint sie aber wohl geeignet genug.
Wenn Sie all dies verwirrend finden: Das ist verständlich. Aber in diesen Tagen werden nicht nur die Positionen, sondern auch die Gefühle und Erwartungen definiert, mit denen die Grünen in eine neue Regierung starten. So ein Konflikt hat Folgen. Für Göring-Eckardt wird sich zwar keine Trauergemeinde einfinden. Doch die Art, wie Hofreiter weggeschoben wird, dürften viele Parteilinke schwer verzeihen – schon allein, weil sie sich jahrelang so tapfer um ihn geschart haben. Durchaus möglich, dass die Parteiflügel, die angeblich ja immer längst ausgedient hatten, zur Organisation von Vergeltungsaktionen wieder in Betrieb genommen werden.
Im vorläufigen Ergebnis aber wird Özdemir, ein pointenstarker Redner in Fragen der Außen- und [3][Verkehrspolitik], ein kiffender Vegetarier und echter Stadtmensch, jetzt Landwirtschaftsminister. Die Traditionsfraktion der Bauernlobby wird nicht fassen können, dass nach Renate Künast, Agrarministerin von 2001 bis 2005, nun jemand noch Schlimmeres kommt und ihnen in die Schweinemast reinreden will. Beziehungsweise reinschwätzen will – der Mann ist schließlich Schwabe.
Eigentlich könnte das ziemlich interessant werden.
26 Nov 2021
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Es gibt ein weiteres Corona-Opfer zu beklagen, die Demonstrationskultur. Coronaprotestler eignen sich Symbole progressiver Bewegungen an.
Am Wochenende wählt die CDU beim digitalen Parteitag ihren neuen Chef. Noch ist unklar, von welcher Seite Friedrich Merz die Regierung angreifen will.
Ob astrologischer Aberglaube oder homöopathische Begeisterung: Früher konnten wir Freunden allerlei Schrullen verzeihen. Jetzt aber gehts ums Ganze.
Die Parteilinke will mit Omid Nouripour den neuen Grünen-Vorsitz bilden. Über die Nachfolge von Baerbock und Habeck entscheidet Ende Januar ein Parteitag.
Bald-Außenministerin Baerbock hatte in der taz einen härteren Kurs gegenüber China angekündigt. Die chinesische Botschaft in Berlin reagiert verstimmt.
Annalena Baerbock ist bald Deutschlands Außenministerin. Ein Gespräch über grüne Personalquerelen, schwierige Kompromisse – und ihren Blick auf China.
Die Grünen werden auch von links für die Migrationspolitik der Ampel kritisiert. Dabei wird vor allem die Integration endlich deutlich verbessert.
Anne Spiegel soll neue Bundesfamilienministerin werden. Die Grüne aus Mainz ist bundesweit wenig bekannt und wird gerne unterschätzt.
Eigentlich wollten die Grünen am Donnerstagnachmittag ihre Minister:innen präsentieren. Doch über die Ämter brach ein harter Kampf aus.
Kein Tempolimit, kein Vorrang für Bahn-Bus-Rad-Verbünde: Der Koalitionsvertrag enttäuscht Befürworter:innen der Verkehrswende.
Die Grünen haben ihre Minister*innen benannt. Robert Habeck wird Vizekanzler. Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt gehen leer aus.