taz.de -- Österreichs Ex-Kanzler Kurz: Noch nackter als ohne Kleider
Die österreichische Politik ist in ihrer theatralischen Dimension nicht zu überbieten. Nicht mal das Genre der Operette kann mithalten.
In Österreich ist Politik die theatralische Form schlechthin. Das will etwas heißen in einem Land mit solch vehementer Theatertradition. [1][Hausdurchsuchungen in der Parteizentrale der ÖVP] und Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt in Wien; [2][Veröffentlichung von Chatprotokollen] der handelnden Politakteure, offenbaren ein Maß an Verderbtheit, Intrigen und Korruption, das jede Soap-Opera in den Schatten stellt.
Kein Wunder, dass Politik das eigentliche Bühnengeschehen dazu verurteilt, Kopie zu bleiben. Denn es ist nur damit beschäftigt, das aberwitzige Theater auf der politischen Bühne zu verarbeiten. So schreibt etwa der Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, Armin Thurnher, [3][in seinem Blog eine täglich fortlaufende „Staatsoperette“] – das Genre der Operette scheint die einzig adäquate Form für die aktuellen Ereignisse. Dem sich überschlagenden Tohuwabohu kommt der Journalist trotzdem kaum nach.
Auch dem Burgtheater ist die Politik Inspiration für eine Lecture-Performance, die allerdings der Wirklichkeit hinterherhinkt. Fünf Schauspieler und eine Erzählerin an einem langen Tisch verlesen Chats, die Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine Adlati ausgetauscht haben. Inhaltlich bringt die Lesung nichts Neues. Alle Einzelheiten kursieren längst in den Medien. Am Staatstheater bekommen sie nur eine Art höhere Weihe.
Insgesamt aber zeigt sich: Politik ist in ihrer theatralischen Dimension nicht zu überbieten. Gerade wenn alles auffliegt, wird ihre Inszenierung sichtbar. Die Inszenierung liefert die symbolische Fassade der Politik. Fällt diese, verkehrt sich das, was bisher als Ausweis von Kurz’ Befähigung zum Kanzler galt, ins Gegenteil: gnadenloser Machtwille, Ungerührtheit, Gewandtheit.
Wandelndes Moraldefizit
Plötzlich erscheint der, der gerade noch als Talent galt, nur mehr als wandelndes moralisches Defizit. Ganz ohne Fassade ist der Politiker Kurz nicht mehr doppelt. Früher ahnte man die Intrige – und sah die Rohheit mit der feinen Klinge. Nun sieht man bei jedem Auftreten die nackte Machtgier – ohne gewandtes Antlitz. Nun schwingt, wenn er spricht, stets der freche Tonfall aus den Chats mit. Das wird hängen bleiben und klingt nach wie ein böses Echo. Sein eigenes Ich jenseits der Fassade fällt nun wie ein Schatten auf den Politiker. Und das machte Kurz untragbar. Noch vor jeder strafrechtlichen Klärung.
Es braucht immer kollektive Illusion, die einem Politiker die Gründe nachreichen, warum er regiert. Denn de facto gibt es keinen wirklichen Grund, warum einer regiert. Nur den Umstand der Wahl. Und wenn der Koalitionspartner, also die Grünen, eine „untadelige“ Person verlangt haben, dann heißt untadelig im Politischen eigentlich: eine Person, deren Fassade intakt ist. Eine Person, an die ein kollektiver Glaube möglich ist.
Bei Kurz ist dies nicht mehr möglich. Man kann nicht einmal mehr wider besseres Wissen daran glauben. Denn die notwendige symbolische Fassade bröckelt. Und eine solch ramponierter Ruf hält keine Unschuldsvermutung aufrecht. Auch wenn man dies hierzulande gebetsmühlenartig wiederholt. Ist aber die Fassade weg – was bleibt dann?
Ein Staatsmann ohne diese ist nackter, als wenn er unbekleidet wäre. Nackter als nackt. Die Chats zeigen Kurz in dieser symbolischen Nacktheit – das heißt in der Alltäglichkeit des Tonfalls, in der Banalität der Erhitzung, in der Gewöhnlichkeit der Intrige. Diese öffentliche Figur wird sich nur schwer rekonstruieren lassen.
Kurz aber beruft sich nun, da er seiner Aura entkleidet ist, auf seine Menschlichkeit. Das ist keine gute Idee. Man kann sich nicht erst als Heiland inszenieren – und dann darauf pochen, dass man auch nur ein Mensch ist. Dass man „zu Hause auch nicht im Anzug“ herumläuft. Sich auf Menschlichkeit zu berufen ist die falsche Strategie. Die Beschwörung der Kurz’schen Hauspatschen bestätigt nur seine symbolische Nacktheit.
25 Oct 2021
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