taz.de -- Emigration aus Belarus: Wie Pickel im Gesicht

Der Staat treibt Kritiker*innen ins Exil. Damit spaltet er die Zivilgesellschaft. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 69.
Bild: Solidarität mit inhaftierten weiblichen Oppositionellen in Minsk am 14. Februar

Die belarussische Staatsmacht versucht die Intellgenzija aus dem Land zu vertreiben: Journalist*innen, Aktivist*innen, Ärzt*innen, Jurist*innen, Künstler*innen und andere nicht gleichgültige Menschen, von denen bekannt geworden ist, dass sie ihre eigene politische Meinung haben. Diejenigen, die die Proteste unterstützt haben, wurden [1][straf- und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen]. Aus Angst davor ins Gefängnis zu müssen, waren sie gezwungen das Land zu verlassen.

Es ist doch nicht normal, dass man, sobald man von der Miliz oder der Ermittlungsbehörde eine Vorladung zu einem „Gespräch“ erhalten hat, sich folgende Schritte überlegen muss: Auf der Seite des Innenministeriums nachsehen, ob du ausreisen kannst und überprüfen, in welchen Ländern es einen „grünen Korridor“ gibt bzw. ob man einen Covid-Test direkt auf dem Flughafen machen kann.

Wir fühlen uns wie Pickel im Gesicht eines Teenagers, die heraus gedrückt und mit einem „rot-grünen Antiseptikum“ betupft werden müssen. Das ist fürchterlich – über Nacht alles aufzugeben und auf unbestimmte Zeit Zuflucht in einem fremden Land zu suchen. Das sind ein wahrhaft psychologischer Angriff und ein Versuch, Menschen im Falle einer unmittelbaren Bedrohung vor eine Wahl von ungeheurer Tragweite zu stellen.

Mit ihrem Versuch, einen Keil in die Zivilgesellschaft zu treiben, hat die Staatsmacht Erfolg. Denn die, die geblieben sind, prangern diejenigen an, die weggegangen sind. Entsprechend negativ werden auch deren Äußerungen und Taten bewertet: Ist schon toll, zu etwas aufzurufen und andere zu verurteilen, wenn man selbst in Sicherheit ist und nicht auf die Straße geht – immer mit dem Gedanken, festgenommen werden zu können.“

„Ich habe bemerkt, dass ich nach meiner Ausreise die ganze Zeit über Schuldgefühle habe. Weil ich in Sicherheit bin, weil ich den Wind und die Sonne genießen, mir Pizza, ja sogar Wein kaufen kann. Weil ich die Möglichkeit habe, mit mir nahe stehenden Menschen zu sprechen. Gleichzeitig aber sitzt eine große Anzahl von Belaruss*innen im Gefängnis. Und da wurde mir plötzlich klar, dass das so nicht geht. Sich jeden Tag selbst zu zerstören und nicht das Leben wahrzunehmen, das auch gut sein kann und dir endlose Lektionen erteilt. Eigentlich ist jeder von uns für die Vorgänge verantwortlich und jeder tut, was er kann. Als wir zum Lärm von Granaten durch die Straßen liefen, trank jemand im Wohnzimmer Kaffee, dachte sich, ich pfeife auf das Regime und glaubte dabei wohl, das müsse so sein. Die Unmöglichkeit, Mitstreiter*innen zu retten und sich schuldig zu fühlen, muss zu etwas Anderem werden. Zu Briefen, Texten, Gesprächen“, sagt die Schriftstellerin und Journalistin Anna Slatkowskaja.

Die Geschäftsfrau Ksenia Fjodorowa schreibt auf Facebook: „Die Jugend geht ohne an eine Rückkehr zu denken. Die Perspektive von Minsk ist, zu einem verlassenen Dorf zu werden, in dem nur noch alte böse Frauen zurückbleiben werden, so wie ich eine bin (wer Ksenia kennt, weiß, dass das Sarkasmus ist, Anm. d. Autorin) und eine Bande verblödeter Vertreter des Sicherheitsapparates.“

Unter diesem Post gab es fast 500 Kommentare. Hier eine Auswahl davon, den sie sprechen für sich und zwar davon, was in den Seelen der Belaruss*innen vorgeht.

„Ich bin eine pathologische Optimistin. Ich versuche gar nicht daran zu denken. Selbst wenn ich fort ginge, für was wäre das gut? Nein, die Versuchung, den Sieg hier zu erringen, überlagert alle Gedanken daran fort zu gehen.“

„Im Sommer haben wir alle gesehen, wie schön, stark und vereint wir waren und sein können. Und wie danach [2][an den Fenstern Flaggen aufgetaucht sind] und Hoffnung in unseren Herzen.“

„Ich habe gedacht: Mit wem werde ich ein uneheliches Verhältnis eingehen? Drei Länder haben mir politisches Asyl angeboten….aber ich habe alle drei Offerten abgelehnt.“

„Die kommenden Jahre werde uns nichts Gutes bringen. Der Staatshaushalt wird vor allem durch Geldstrafen aufgefüllt. Worauf soll man warten? Nur das physische Verschwinden eines Unmenschen (gemeint ist Präsident Alexander Lukaschenko, Anm. d. Red.) wird dieses Territorium retten. So bedauerlich das auch sein mag.“

„Wir haben bis zum 9. August darüber nachgedacht. Jetzt weiß ich ganz genau, dass nicht ich es bin, der weggehen sollte. Warum sollten ich IHNEN mein Land überlassen? Dann werden wir niemals Herren in unserem Land sein, sondern nur fremde Migranten in anderen Staaten. Und wenn ich mich dafür entscheide, meinen Ruhestand an der spanischen Küste zu verbringen, dann nicht, weil sie mich aus Belarus heraus geekelt haben, sondern weil ich das so will.“

„Es ist peinlich irgendwohin zu fahren und zu sagen: „Wir haben es bei uns nicht hinbekommen.“ Viele Europäer verstehen überhaupt nicht, was bei uns passiert, weil sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie betrachten Rechte und Freiheiten als etwas Gegebenes.“

„Wohin sollte ich in meinem reifen Alter schon gehen? Ich will das nicht. Das ist meine Stadt. Mein Land. Ich liebe das alles und will hier leben. Hier sind meine Bücher, meine Musik und meine Katzen. Und natürlich mein Vater. Deshalb zieht es mich nirgendwo hin. Und es gibt kein Aufnahmezentrum für Geflüchtete wo man anfangen kann mit „das sind meine Katzen, sie sind zu viert, sie brauchen Vitamine, einen Psychotherapeuten und Ethnomusik.“

Aus dem Russischen Barbara Oertel

17 Mar 2021

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