taz.de -- Die Wahrheit: Gefährderansprache dringend gesucht
Tagebuch einer Shopista: Manche Konsumenten verkraften den bevorstehenden Zusammenbruch ihrer heimeligen Kaufhauswelt wohl besonders schlecht.
Rechtzeitig zum Beginn der „zweiten Welle“ gehen die Klopapiervorräte aus, also ab in den Dromarkt in der Wilmersdorfer Fußgängerzone, um bei der Gelegenheit in Berlin gleich ein Virusopfer zu betrauern. Der Karstadt-Tanker hat Schlagseite und wird sinken, an der Fassade des künftigen Wracks künden schmerzhaft hohe Rabattangebote vom Todeskampf. Der Verlust vertrauter Konsumtempel kann weh tun, aber manche Konsumenten verkraften den bevorstehenden Zusammenbruch ihrer heimeligen Kaufhauswelt anscheinend besonders schlecht.
„Hallo! Halllloooo!! Haaalllooo!!!“, brüllt es hinter mir, als ich beim Warten an einer Fußgängerampel meine Wehmut telefonisch mit einer Freundin teile und mir dabei den Sneaker schnüre. Erst als heißer Atem meinen Nacken streift und mich die junge Mutter neben mir besorgt anstarrt, wird klar, dass ich gemeint bin. „Jaaa, halloooo!!! Sie da! Hören Sie mal auf damit! Das ist gefährlich!“
Hinter mir schwenkt ein zorniger Plus-Sechziger drohend eine Plastiktüte und brüllt aus Leibeskräften auf mich ein. „Was ist gefährlich?“, frage ich verdattert. „Ist bei dir ’ne Schlägerei, oder was ist das fürn Krach?“, erkundigt sich die Freundin am anderen Ende, derweil Rumpelstilzchen großzügig seine Aerosole verteilt.
„So viel ich verstehe, gefällt jemandem nicht, dass ich an einer Ampel telefoniere und mir dabei den Schuh zubinde“, übersetze ich ihr das Gebrüll. Gleichzeitiges Schuhezubinden und Telefonieren fällt dem selbsternannten Security-Wüterich wahrscheinlich schwer, weshalb er es kurzerhand zur Gefährdung der Öffentlichkeit erklärt; vermutlich kann er auch nicht gleichzeitig laufen und Kaugummi kauen.
„Sie könnten ein bisschen freundlicher sein“, meldet sich die junge Mutter solidarisch. „Blöde Weiber! Mistpack!“, revanchiert sich der Altaufseher, und jetzt reicht es mir dann doch ein bisschen. Aber bevor ich ihm „Pass mal auf du, gleich fessel ich dich an den Ampelmast und stopf dir deine Plastiktüte ins Maul!“ entgegenschleudern kann, erscheint mir gerade noch rechtzeitig Michelle Obama mit „When they go low, we go high“.
Beim Karstadt-Soli-Einkauf und auf dem Heimweg denke ich darüber nach, was mir zu „high“ einfällt. Hätte ich den Schreihals vielleicht deeskalierend zum Eis einladen sollen? Muss ich einen Mediationskurs belegen? Und was hilft gegen frustrierte Aggros?
Auf dem Höhepunkt der Ratlosigkeit begegnet mir zufällig auf Youtube die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die in einer neun Minuten und 33 Sekunden langen, glasklaren Rede ihrem republikanischen Abgeordnetenkollegen Ted Yoho die Meinung sagt, nachdem er sie im Capitol eine „fucking bitch“ genannt hat. Einer ihrer klugen Sätze bleibt in Erinnerung: „Meine Eltern haben mich nicht dazu erzogen, Missbrauch von Männern hinzunehmen.“ Genau so ist es.
30 Jul 2020
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