taz.de -- Verschwörungstheorien in sozialen Medien: Die Pandemie der Unwahrheiten
Soziale Medien versuchen, die Verbreitung von Coronamythen einzudämmen. Doch die Verschwörungspromis sind schneller.
Auf den ersten Blick sieht das Video aus wie ein journalistisches Interview: Vor schlichtem Hintergrund beantwortet die US-amerikanische Molekularbiologin Judy Mikovits Fragen zu Covid-19. Doch statt gesicherter Fakten verbreitet Mikovits, die 2011 vom Whittemore Peterson Institute for Neuro-Immunse Disease wegen nicht haltbarer Forschungsergebnisse entlassen wurde, Unwahrheiten: dass Maskentragen das Virus erst aktiviere oder Corona durch einen schlechten Grippe-Impfstoff entstanden sei.
Das Youtube-Video „The Plandemic“ ist ein Paradebeispiel dafür, wie schnell sich Verschwörungserzählungen in der Coronakrise verbreiten können. Impfgegner:innen, rechte QAnon- und Chemtrail-Facebookgruppen teilten es. Innerhalb weniger Tage wurde das 26-minütige Video mehrere zehn Millionen Male weltweit gesehen.
Solche Videos veranlassen Google und Facebook, vermehrt gegen Desinformationen vorzugehen: Mit Warnhinweisen und verifizierten Informationen von Gesundheitsbehörden. Corona-Falschmeldungen werden nun häufiger gelöscht, Kanäle von Verschwörungserzähler:innen gesperrt. [1][Vergangene Woche kündigte auch Twitter an], zweifelhafte Inhalte zu kennzeichnen. Damit verschwinden die Verschwörungsideologien nicht – ihre Verbreitung wird nur eingedämmt.
Deshalb ziehen immer mehr Prominente zu Telegram um. Der Nachrichtendienst ist zum wichtigsten Beschleuniger für Falschbehauptungen über das Coronanavirus geworden. In halböffentlichen Sphären gestaltet sich Regulierung deutlich schwieriger.
Sechs mal schneller als wahre Informationen
Die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Eva Hermann ist in Deutschland eine der Reichweitenstärksten: 110.000 Follower:innen folgen ihr. Im Minutentakt postet sie Links, Bilder und Gedanken zur „Neuen Weltordnung“. Ähnlich sieht es in den Telegram-Gruppen von Atilla Hildmann oder Xavier Naidoo aus.
Die bisher größte Langzeitstudie aus dem Jahr 2018 legt nahe, dass sich Falschnachrichten und Verschwörungsideologien sechsmal mal schneller als wahre Informationen und Tatsachen verbreiten. Zu diesem Ergebnis kam ein Forscherteam des Massachusetts Institute of Technology. Sie untersuchten 126.000 Erzählungen, die zwischen 2006 und 2017 von drei Millionen Menschen bei Twitter geteilt wurden.
Mittlerweile haben Youtube und Facebook das Video „The Pandemic“ von ihren Plattformen entfernt. Wer jetzt bei Youtube danach sucht, bekommt Aufklärungsvideos vorgeschlagen. [2][Das meistgesehene] kann 1,4 Millionen Aufrufe verzeichnen.
23 May 2020
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Trump teilt immer wieder Tweets der QAnon-Bewegung. Deren Hardcore-Spinnereien sind alles andere als harmlos.
Facebook hat fast 800 Gruppen mit Verbindungen zur rechtsextremen QAnon-Ideologie entfernt. Trump hingegen weiß die Bewegung „zu schätzen“.
Torsten Fock-Herde entwickelt ein Videospiel, das über Verschwörungsideologien aufklären soll – indem die Spieler*in sich in sie hineindenkt.
Twitter schränkt die Meinungsfreiheit gefährlicher Nutzer ein. Andere Netzwerke sollten sich anschließen. Digitale Gewalt bleibt nicht digital.
Der Weltärztepräsident fordert eine völlig unsinnige Corona-Impfpflicht. Am Ende nutzt sie nur den Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern.
Das Duo Joko und Klaas hat vieles richtig gemacht. Nun befassen sich mehr Menschen mit dem Thema Gewalt an Frauen, sagt die Politologin Regina Frey.
Hinter den kruden Theorien stehe oft Verunsicherung, sagt Jan Philipp Reemtsma. Gekränkte Narzissten regredieren auf den Status von Kleinkindern.
Wissenschaftler*innen sehen die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung mit Sorge. Sie fordern mehr Unterstützung für gefährdete Gruppen.