taz.de -- Hörbuch über Pynchon-Roman: Den Krieg durch Wirrnis besiegen

Passend zum Jahrestag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg: Eine Hörbuch-Produktion von Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“.
Bild: Verwüstung nach Angriff von deutschen V-2 Raketen auf London im November 1944

So könnte man sich die Handlung des nächsten tausendseitigen Thomas-Pynchon-Romans vorstellen: Ein Hörspielregisseur macht aus einem tausendseitigen Thomas-Pynchon-Roman mit vierhundert Figuren ein Hörspiel, verschanzt sich jahrelang im Studio, versucht, die sich in alle Richtungen ausbreitenden Handlungsstränge, die so traumlogisch, absurd und sprunghaft sind, dass sie nur mit großer Großzügigkeit als „Handlungsstränge“ bezeichnet werden können, zu fassen zu bekommen.

Wäre dieser Hörspielregisseur eine fiktive Figur Pynchons, würde er bei dem Versuch scheitern und zwischen Roman und Realität wahnsinnig werden. Aber Klaus Buhlert ist keine Pynchon-Figur, sondern er arbeitet für den Südwestrundfunk und er ist nicht gescheitert.

[1][„Die Enden der Parabel“] – im US-Original „Gravity’s Rainbow“ – ist ein Monstrum von einem Buch, ein vorsätzlich überlanges, fahriges, paranoides Panorama des Zweiten Weltkriegs, das mit unnachgiebigem Überwältigungswillen eine aus den Fugen geratene Welt abbildet. Nach seinem Erscheinen 1973 wurde dem Roman noch mit Verweis auf seine Obszönität und angebliche Unlesbarkeit der Pulitzer-Preis verweigert, längst ist er als Meilenstein der literarischen Postmoderne kanonisiert. Damit fällt es in Buhlerts Beuteschema, der hiermit, nach „Moby Dick“, „Ulysses“ und „Der Mann ohne Eigenschaften“, seine nächste Hörspieladaption eines sehr männlichen Mammutwerks der Weltliteratur vorlegt.

Es beginnt mit einem Geräusch

Sie beginnt, wie das Buch, mit einem Geräusch: „Ein Heulen über dem Himmel.“ Das Heulen der deutschen Raketen, die in London einschlagen. Ihr Einschlag ist das eine Ende der Parabel, ihr Abschuss das andere. Zerstörung als grafisch dargestellte Funktion, ein Regenbogen, von der Schwerkraft geformt. Die Gesetze der Physik bleiben intakt, könnte man also meinen. Was hochsteigt, fällt wieder herunter. Aber: Erst schlägt die Rakete ein, dann heult sie über den Himmel. Denn sie ist so schnell, dass man sie erst kommen hört, wenn sie bereits explodiert ist. Diese Umkehrung von Ursache und Wirkung ist die Schlüsselfigur von Pynchons Roman. Sie ist der Nukleus einer Welt, in der die Mitte nicht mehr hält.

Lange hat sich SWR-Dramaturg Manfred Hess um die Rechte an „Gravity’s Rainbow“ bemüht. Der Autor selbst hat schließlich sein Okay gegeben. Bisher durfte nur der große Regisseur Paul Thomas Anderson einen Pynchon-Roman, „Inherent Vice“, adaptieren. Hat man Pynchon gesagt, dass Buhlert der Mann vom „Mann ohne Eigenschaften“-Hörspiel ist? Fand er sicher gut.

„Die Enden der Parabel“ leuchtet als Hörspiel ein, zumindest mehr als eine Film- oder Serienadaption. Die rasanten Perspektivwechsel der Romanvorlage verwandelt Buhlert buchstäblich in Vielstimmigkeit, er lässt drei Dutzend Schauspieler in atemloser Abfolge raunen, knurren und schreien, schneidet stürmisch von einer Figur zur anderen, wechselt in Sekundenschnelle von nahem Flüstern zu fernem Rufen: die Übersetzung von Pynchons Prosa in desorientierende Soundcollagen. Die Vielfältigkeit der Effekte, durch die Buhlert seine Schauspielerstimmen jagt, entfaltet vor allem auf Kopfhörern eine konfuse Kraft.

Kneipenjazz und Scheibenwischer

Szenische Geräusche und Musik setzt er wirkungsvoll ein; Kneipenjazz und Scheibenwischer, Meeresrauschen und Explosionen, Klonken und Klackern. Buhlerts Hörspiel läuft über 13 Stunden, es fordert, wie das Buch, Arbeit, Aufmerksamkeit und Konzentration, und ob sich die Investition lohnt, hängt davon ab, wie gut man mit Unklarheit umgehen kann.

Denn das, je nach Betrachtung, Frustrierende oder Faszinierende bei den „Enden der Parabel“ ist, dass ihre Handlungsstränge nicht zusammenfinden, sondern im Laufe des Geschehens nur weiter auseinandertreiben, dass Figuren einfach verschwinden, dass die Dinge eben nicht klarer werden, sondern nur weiter verschwimmen.

Im Grunde ist Pynchons Projekt auch eine Umkehrung: Versteht man die künstlerische Betätigung als den Versuch, der Willkür und Grausamkeit des Lebens eine Form abzutrotzen, ist Pynchon der Anti-Künstler, der nur noch mehr Wirrnis in die Welt setzt. Das Leben hat keine Ordnung, warum sollte es sie in der Literatur geben?

Buhlert hat die Vorlage gestutzt, hat sie auf die wesentlichen Elemente – oder auf die Elemente, die als wesentlich identifizierbar sind – reduziert. Auf den US-Soldaten Slothrop zum Beispiel, dessen Penis als Frühwarnsystem für Raketenschläge fungiert, seit er als Kind Versuchskaninchen durchgeknallter Pawlowianer war. Denn, ach ja: In den „Enden der Parabel“ regiert neben Wirrnis und Willkür auch der Witz.

8 May 2020

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AUTOREN

Jan Jekal

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