taz.de -- Compilation mit „Yiddisher Jazz“: Die schönste Sprache der Welt

Eine Compilation mit jiddischen Jazz- und Folksongs bringt uns die versunkene radikale Welt des Londoner East End näher. Sie fließt wie ein DJ-Set.
Bild: Ein Mann sammelt 1952 im East End in London Geld für Mittellose

„Deine Schellacks, Mensch, wo hast’n die her?“ „Darling, von da, wo ihr eure Flugblätter drucken lasst. Die sind übrigens nicht verkehrt.“ So könnte sie angefangen haben, die Unterhaltung zweier BewohnerInnen aus dem Londoner East End in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, irgendwo zwischen den Vierteln Bethnal Green und Whitechapel. Denn dort, in der Straße Brick Lane 138, befand sich die Druckerei Weinberg’s, spezialisiert auf Jiddisches und Gewerkschaftsmaterialien.

Aus den 1920er Jahren hat sich eine Annonce erhalten, die unter der Abbildung eines prächtigen Plattenspielers einlädt: „Buy your Gramophone or Records from Weinberg’s. The largest selection in stock.“ Der Großteil des Anzeigentextes ist aber in Hebräisch gesetzt, und da steht: „Music is the Most Beautiful Language in the World.“

2018 ist dieser Werbeslogan zum Namensgeber einer in England erschienenen Compilation geworden, deren weltweiten Vertrieb jetzt dankenswerterweise das Berliner Label play loud! übernommen hat: „Music is the Most Beautiful Language in the World. Yiddisher Jazz in London’s East End 1920s to 1950s“. Ihre 18 Titel zusammengestellt hat Alan Dein, Historiker und Redakteur bei Radio BBC und Abkömmling osteuropäischer Emigranten, die vor den antisemitischen Pogromen des späten 19. Jahrhunderts nach England geflohen waren.

Zwischen 1860 und 1890 erreichten schätzungsweise 130.000 Juden das East End, die Zahl der Synagogen wird mit 150 angegeben. Auch nach dem Ersten Weltkrieg war London ein Anziehungspunkt für Emigranten, die sich in Deutschland nicht sicher fühlten, darunter so illustre Gestalten wie der Anarchist Rudolf Rocker und seine Familie. Das East End wurde zum bevorzugten Wohnort für Querdenker, Radikalinskis, aber nicht nur die.

Alle Menschen wollen sich unterhalten, und sie wollen unterhalten werden. Auf Deins Compilation finden sich schöne Beispiele, wie Londoner und jiddischer Zungenschlag zueinander fanden. „Yiddisher Jazz“, das meint in diesem Zusammenhang Klezmer, Swing und Folk mit Karacho und Kondition, hochgradige Tanzmusik zumeist. Einige tragen das bereits im Titel: Da ist „Selection of Hebrew Dances“ von Ambrose & his Orchestra aus dem Jahr 1934, ein Stück, das als Jazz-Stomper anhebt, in den sich aber ein suggestiver, melancholischer Schmelz mischt.

Geigenlehrer von der Straße mitgebracht

Alan Dein erzählt im 25-seitigen, mit Faksimiles von Fanmaterialien, Tickets und Annoncen (unter ihnen die eingangs zitierte) illustrierten Booklet die Geschichte des Bandleaders. Sie darf als so exemplarisch wie filmreif gelten: Benjamin Baruch Ambrose wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Warschau geboren und kam als Kind ins East End. Den ersten Geigenlehrer brachte ihm der Vater von der Straße mit, erinnerte sich Ambrose in einem BBC-Interview.

Als der Erste Weltkrieg 1914 ausbrach und mit ihm die deutschen Zeppeline London bombardierten, wurde Ambrose in die USA geschickt. In den Zwanzigern kehrte er nach London als Star zurück. Gleich noch ein Film ließe sich mit einer Biografie bestreiten, die in Krakau begann und im Zweiten Weltkrieg über Russland in die polnische Armee und dann nach London führte.

Der Film würde erzählen, wie aus Stanislaw Laudan Stanley Laudan wurde, der 1956 zum jüdischen Neujahr eine Zehn-Zoll-Platte mit Comedy-Songs veröffentlichte: „Yiddish Cocktail“ enthält acht Songs: Zwei davon hat Dein für seine Compilation ausgewählt, den halsbrecherischen „Rock and Roll Kosatzky“ und einen der Höhepunkte des Albums, „Yiddisher Samba“.

Die Eiswürfel im Glas tanzen Swing

Textprobe: „The Yiddisher Samba / the Yiddisher Samba / has rhythm and has life / like the Spanish Caramba.“ Dazu eine elegante, gestopfte Trompete und ein Vibraphon, als würden die Eiswürfel im Glas Swing tanzen. Alan Dein hat „Music is the Most Beautiful Language in the World“ einem DJ-Set ähnlich angelegt, dazu gehören auch ruhigere Töne.

Midtempo, aber durchaus noch tanzflächentauglich ist Rita Marlowes „Why Be Angry Sweetheart“. Die Sängerin war bereits in London geboren worden, hatte wie ihr Vater in Synagogen-Chören gesungen, ist nach 1945 dann mit Benjamin Ambrose aufgetreten und hat ihre Alben und Singles auf dem Label Oriole veröffentlicht. Was es mit ihm und den benachbarten Planet Records auf sich hatte und warum Independent Labels eine Prise älter als Punk sind, auch das wird im Booklet erzählt.

Auf Decca hingegen ist 1935 der vielleicht emblematischste Song der Compilation erschienen: Max Bacons Rumba „Beigel“, eine Hommage an das Gebäck und seine Gegend. Ein Jahr darauf verhinderten in der legendären „Battle of Cable Street“ 300.000 Gegendemonstrant:innen einen Aufmarsch von Oswald Mosleys British Union of Fascists im East End.

Und unsere Unterhaltung könnte wie folgt weitergehen: „Morgen leuchten wir den Schwarzhemden heim. Biste dabei?“ „Ehrensache.“ „Prima, hinterher können wir ein paar Schellacks hören.“ „Nee Schatz, das machen wir vorher.“

29 Apr 2020

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Robert Mießner

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