taz.de -- Einjähriges Bestehen der „Gilets Jaunes“: Tränengas statt Torte

Vor einem Jahr gingen die „Gelbwesten“ in Frankreich das erste Mal auf die Straße. Bei einer Geburtstagsdemo kommt es erneut zu Gewalt.
Bild: Eine „Gelbweste“ wird bei einer Demonstration in Paris einen Tränengasbehälter los

Paris taz | Die Barrikaden brennen schon Stunden vor der Demonstration, die um 14 Uhr beginnen sollte. Vor einem Einkaufszentrum auf dem Pariser Place d'Italie kam es am Samstag zu ersten heftigen Zusammenstößen. „On est là, on est làaaa„ (Wir sind noch immer da!) sangen trotzig einige „Gelbwesten“, andere stimmten ein „Happy birthday“ für die nun ein Jahr alte Bewegung an.

Wenig später attackierten schwarz gekleidete und vermummte Personen eine Bankfiliale. Bevor die zahlreich anwesende Polizei einschreiten konnte, waren die Fassade mit Pflastersteinen zertrümmert. An mehreren Stellen brannten Mülleimer wie Signalfeuer, mindestens drei Autos wurden umgestürzt, auch die Glasscheiben von Bushaltestellen fielen der mutwilligen Zerstörung zum Opfer. In den Nachrichtensendern wurde konstatiert, „wie erwartet“ seien da „schwarze Blöcke“ am Werk.

Zu ihrer Geburtstagsfeier konnten die [1][„Gilets jaunes“], die Demonstrierenden mit ihren gelben Warnwesten als Emblem, von Seiten der Staatsführung gewiss nicht mit einer Torte rechnen. Und statt Kerzen auf einem Kuchen brannten in Paris am Samstag erneut Barrikaden.

Es waren nicht Tränen der Rührung, die auf der Place d'Italie im Südosten der französischen Hauptstadt flossen; es war die unvermeidliche Reaktion auf einen massiven Beschuss mit Reizgasgranaten durch die Polizei. Etwas später kamen auch Wasserwerfer der Polizei zum Einsatz, als die ursprünglich von den Behörden bewilligte Kundgebung für illegal erklärt und die Auflösung der Ansammlung angeordnet wurde.

Kurz, in Paris, aber auch in mehreren anderen Städten wie Toulouse, Nantes, Marseille, widerlegten Tausende von aufgebrachten und mobilisierten „Geldwesten“ mit ihren Kundgebungen die seit Wochen wiederholte Behauptung der Medien, wonach die Bewegung nicht nur abgeflaut, sondern am Ende sei. Dennoch wurde auch sichtbar, dass diese bisher wenig strukturierte und heterogene Bewegung weniger Leute auf die Straße bringt als vor einem Jahr und in den ersten Monaten ihrer Existenz.

Die Demonstration frisst ihre Kinder

Am 17. November 2018 hatten rund 300.000 Menschen an Dutzenden oder Hunderten von Orten Kreisel, Kreuzungen oder Zufahrten zu Autobahnen und Supermärkten besetzt. Dort harrten sie zum Teil wochenlang aus, um ihren Forderungen nach mehr Kaufkraft, besseren Infrastrukturen und Volksrechten Nachdruck zu verleihen. Politologen und Sicherheitsexperten fragten sich, wer sich wohl hinter dieser Revolte eines scheinbar neuen Typs verberge, ohne aber je „Drahtzieher“ benennen zu können.

Wer immer als SprecherIn auftrat, wurde umgekehrt sogleich von der Basis für illegitim erklärt und häufig sogar bedroht. Wortführerinnen wie Ingrid Levavasseur oder Jacline Mouraud gingen deswegen rasch auf Distanz zur Bewegung, die sie mitinitiiert hatten.

Andere wie Priscillia Ludosky, Eric Drouet oder Jérôme Rodrigues (er hat selber ein Auge durch eine auf ihn gefeuerte Polizeigranate verloren) bleiben trotz aller Einschüchterungsversuche weiterhin engagiert, ohne sich deswegen aber als Chefs aufspielen zu wollen oder auch nur [2][im Namen der Bewegung sprechen zu können].

Die Gewalt der Polizei

Die Kundgebungen am Samstag belegten aber auch, dass die Staatsführung, die zu Jahresbeginn einige Zugeständnisse an die Kaufkraft der Haushalte mit geringen Einkommen gemacht hat, auch weiterhin vor allem mit Repression antwortet. Im Verlauf des ersten Jahres der „Gilets jaunes“ wurden mehr als 10.000 [3][Personen inhaftiert], 3.100 von ihnen sind – meist im Schnellverfahren – strafrechtlich verurteilt worden.

Das Kollektiv „Désarmons-les!“, das die Opfer von Polizeigewalt registriert, spricht von 2.000 bis 3.000 Verletzten, davon haben 24 ein Auge und fünf eine Hand verloren. Vermutlich durch eine „verirrte“ Tränengasgranate der Polizei wurde in Marseille eine ältere Frau getötet.

War es das wert?, fragen sich manche „Gelbwesten“ der ersten Stunde. Die Zwischenbilanz ist für viele wie ein halbvolles Glas: Es ist einiges in Bewegung gekommen, aber noch wenig wirklich erreicht worden. Heute wird in der Bewegung diskutiert, wie der Kampf mit anderen Mitteln und vor allem zusätzlichen Kräften fortgeführt und verstärkt werden könnte.

Am 5. Dezember, wenn die Gewerkschaften gegen die Pläne einer Rentenreform zu einem unbefristeten Streik im öffentlichen Verkehr aufrufen, wollen die „Gilets jaunes“ mitmarschieren. Für sie wäre das der ideale Anlass, die seit Monaten erhoffte „Konvergenz“ mit anderen sozialen und politischen Bewegungen von der Theorie in die Tat umzusetzen. Präsident Macron und seine Regierung befürchten einen „heißen“ Herbst.

16 Nov 2019

LINKS

[1] /Rechte-und-linke-Gelbwesten/!5571064
[2] /Macron-zu-Protesten-in-Frankreich/!5553208
[3] /Protest-in-Frankreich/!5557588

AUTOREN

Rudolf Balmer

TAGS

Gilets jaunes
Gelbwesten
Paris
Schwerpunkt Frankreich
George Floyd
Neoliberalismus
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Gelbwesten
Gesundheitswesen
Gelbwesten
Juden in Frankreich
Gelbwesten

ARTIKEL ZUM THEMA

Demo gegen rassistische Polizeigewalt: Rund 20.000 in Paris auf der Straße

Neue medizinische Befunde zum Tod von Adama Traoré haben Proteste in Paris ausgelöst. Der 24-Jährige war 2016 bei einer Festnahme gestorben

Sozialdrama „Aus der Spur“ auf Arte: Mit Zynismus gegen die Schnösel

In der französischen Miniserie „Aus der Spur“ wehrt sich ein gedemütigter Arbeitsloser gegen die Chefetage. Da schwingt Gelbwesten-Geist mit.

Polizeigewalt in Frankreich: „Beispielhaft“ sollen sie sein

Die Staatsführung kann Vorwürfe exzessiver Polizeigewalt nicht mehr ignorieren. Ihr zaghaftes Eingeständnis werten Kritiker als Heuchelei.

Rentenreform in Frankreich: Viele Gründe für Skepsis und Zorn

Präsident Macron möchte das komplizierte Rentensystem reformieren. Dass es dabei fair zugeht, trauen viele der Staatsführung nicht zu.

Rentenproteste in Frankreich: Wut und Misstrauen

Eine Rentenreform ist in Frankreich überfällig. Doch viele misstrauen Macrons Vorhaben. Sie befürchten, dass sie bald noch weniger Geld haben werden.

Ein Jahr Gelbwesten: Party ohne den Präsidenten

Emmanuel Macron bekommt nur noch Applaus von rechts und die Franzosen entdecken eine neue Solidarität. Wie der Protest das Land verändert hat.

Gesundheitssystem in Frankreich: Notfallplan für die Notaufnahmen

Die Regierung macht mehr Geld für Krankenhäuser locker. Vor allem in den Notaufnahmen der öffentlichen Kliniken kommt es zu Engpässen.

Gelbwesten-Proteste in Frankreich: Für tot erklärt, aber immer noch da

Bald gibt es die „Gilets jaunes“ ein Jahr lang. Wie geht es weiter? In Montpellier trafen sich 450 Delegierte, um über die Zukunft zu sprechen.

Gelbwesten in Frankreich: Bewährungsstrafe wegen Antisemismus

Eine Gelbweste beschimpfte den Philosophen Alain Finkielkraut antisemitisch. Ein Gericht verurteilte ihn nun zu zwei Monaten Haft auf Bewährung.

Deutscher Ableger der „Gilets Jaunes“: Mit Gelbweste und Marschmusik

Längst demonstrieren auch in Deutschland verschiedene Gruppen in Warnwesten. Im Osten sind es vor allem Rechte. Ihr Protest ist diffus.