taz.de -- Ehrung für Psychiater: Erinnerungen und Gedächtnis

Der Psychiater und Nobelpreisträger Eric Kandel erforschte jahrzehntelang, wie das Gedächtnis funktioniert. Zum 90. ehrt ihn nicht nur die Stadt Wien.
Bild: Nobelpreisträger Eric Kandel bei der Verleihung des Wiener Rathausmannes am 6. November

Berlin taz | Am 7. November 1938 feierte ein jüdischer Junge in Wien seinen neunten Geburtstag: Eric Kandel. Das ist 81 Jahre her, aber der US-amerikanische Hirnforscher und Nobelpreisträger, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feiert, erinnert sich sehr genau daran. Denn nur wenige Tage nach seinem Geburtstag drang die Gestapo in die elterliche Wohnung in Wien ein, vertrieb die Familie und plünderte die Wohnung.

Dabei verlor Kandel das heiß ersehnte Geschenk, das ihm seine Eltern zu seinem neunten Geburtstag gemacht hatten: ein ferngesteuertes Auto. Von diesem traumatischen Erlebnis vor mehr als achtzig Jahren erzählt Eric Kandel in dem filmischen Porträt „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ (2009), als wäre es gestern gewesen.

Die Frage, wie sich solche einschneidenden emotionalen Erfahrungen in das Gedächtnis „einbrennen“, wie sich überhaupt so etwas wie Lernen, Erinnerung und Gedächtnis in den Zellen des Gehirns formiert, das erforscht der Mediziner und Psychiater Eric Kandel seit mehr als fünf Jahrzehnten. 1970 entdeckt er, dass Lernen und Gedächtnisspeicherung mit Veränderungen an den Synapsen, an den Verbindungen zwischen den Nervenzellen einhergehen: Die Signalübertragung wird kurzfristig intensiviert, bei einem starken Stimulus verändert sich sogar die Form der Synapse, was zu einer dauerhaften Stärkung der Nervenverbindung führt.

Die grundlegenden Mechanismen, also welche Gene dafür angeschaltet und welche Proteine gebildet werden, identifizierte er bei der Meeresschnecke Aplysia. Das Tier stand bei Neurobiologen als Versuchstier damals hoch im Kurs, weil das Nervensystem der Schnecke einfach aufgebaut ist. Ihre nur etwa 20.000 Nervenzellen sind die größten im Tierreich und zum Teil mit bloßem Auge sichtbar. Kandel klärte nicht nur die biochemischen Prozesse auf, er konnte auch zeigen, dass sie sich bei Mensch und Tier gleichen. Nicht nur bei der Meeresschnecke, sondern auch im Hirnstamm von Mäusen und Menschen sind die von ihm beschriebenen Veränderungen an den Synapsen die biologische Grundlage für die Bildung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses. Für diese Erkenntnisse wurde er im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Kandel, der 1939, kurz nach seinem neunten Geburtstag, mit seiner Familie aus Wien floh und in die USA emigrierte, forscht auch im Alter von 90 Jahren noch an dem von ihm 1984 mitbegründeten Howard Hughes Medical Institute der Columbia University in New York. Neben seiner Autobiografie hat er zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, in denen er zum Teil weit über seine eigene Disziplin hinausblickt. So verknüpfte er in dem Band „Das Zeitalter der Erkenntnis“ (2012) die Hirnforschung mit der Geschichte der Wiener Moderne um die Jahrhundertwende. In einem weiteren Buch setzte sich der Kunstliebhaber mit dem Prinzip der Reduktion in Kunst und Wissenschaft auseinander („Reductionsm in Art and Brain Sciences“, 2016).

In seiner Geburtsstadt Wien, mit der ihn aufgrund der Vertreibung seiner Familie und der aus seiner Sicht mangelnden Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit lange eine Hass-Liebe verband, hat er sich mittlerweile versöhnt. Er hat auch die österreichische Staatsbürgerschaft wieder angenommen, und in Wien wurde er in dieser Woche anlässlich seines 90. Geburtstages vielfach geehrt, unter anderem mit einem „Fest für Eric Kandel“ an der Universität, an dem Bundespräsident Alexander Van der Bellen teilnahm und Anton Zeilinger, der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Laudatio hielt.

In Deutschland macht ihm die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ein besonderes Geburtstagsgeschenk: Eine neu entdeckte Muschelart, die Forscher 2016 vor der Küste Namibias aus dem Meer geholt haben, wird nach ihm benannt: Neocardia kandeli. Die Muschel gehört zum Stamm der marinen Weichtiere, genauso wie die Meeresschnecke Aplysia. Und ihr, das hat Eric Kandel einmal gesagt, hat er den Nobelpreis zu verdanken.

7 Nov 2019

AUTOREN

Kristina Vaillant

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