taz.de -- Die Wahrheit: Eine üble Entdeckung

Da will man nur ordnungsgemäß den Müll hinaustragen – und dann das! Im grauen Mülleimer liegt etwas, das einen fast zu Tode erschreckt.

Es gibt nur wenige Gründe für mich, das Haus zu verlassen. Einer davon ist das Hinausschaffen der Küchenabfälle. Dazu muss ich Straßenschuhe und etwas Ausgehtaugliches anziehen, denn es handelt sich um einen öffentlichen Auftritt. Nachbarn und Passanten können mich auf dem Weg zur Mülltonne und zurück sehen. Gern unternehme ich solche Ausflüge nicht, doch hat man ja keine Wahl, wenn man es ablehnt, in einer stinkenden, von kleinen und großen Fliegen überbevölkerten Wohnung zu leben.

Im Sommer des vorigen Jahres ereignete sich bei einem meiner Entsorgungsgänge etwas Verstörendes. Um einen prall gefüllten Abfallbeutel in den hohen dunkelgrauen Behälter zu werfen, klappte ich dessen Deckel auf und erschrak fast zu Tode. Auf dem sich schon fast bis zum Rand auftürmenden Müll lag etwas, das ich zunächst für einen toten Säugling hielt.

Man hört und liest ja laufend Berichte über solche furchtbaren Vorkommnisse. Befremdlicherweise trug das, was da vor mir lag, aber maßstabsgerechte – allerdings etwas fremdartige – Erwachsenenkleidung, und bei genauerem Hinsehen erkannte ich dann, dass es sich gar nicht um einen Säugling handelte, sondern um einen sehr kleinen Mann von etwa fünfzig Jahren.

Tot war er ganz offensichtlich, wenn auch keine Verletzung an ihm zu sehen war. Ich fragte mich, warum es ein Wesen wie ihn überhaupt gab, wie er gerade in meine Mülltonne geraten war und was nun zu tun sei. Mir fiel beim besten Willen nicht ein, welche Maßnahmen ein vernünftiger Mensch in dieser Situation ergreifen würde. Vielleicht musste ich die Polizei verständigen, aber in eine dermaßen unmögliche Angelegenheit wollte ich keinesfalls hineingezogen werden.

Ein solcher Leichenfund würde natürlich enormes Aufsehen erregen. Deshalb war zu erwarten, dass den Behörden um jeden Preis an Geheimhaltung gelegen sein musste. Für einen Augenzeugen konnte es bestimmt überaus gefährlich werden. Ausgerechnet mir, der ich an nichts mehr interessiert war, als mich vor der Welt zu verstecken, musste so etwas passieren!

Rein theoretisch konnten in den Mülltonnen der anderen Mieter ebenfalls tote Zwerge liegen, doch ich verzichtete lieber darauf, mich diesbezüglich zu vergewissern. Es galt, die Ruhe zu bewahren und strikt alles zu vermeiden, was auffällig wirkte. Also klappte ich den Deckel wieder zu und trug die Küchenabfälle in meine Wohnung zurück.

Die turnusmäßige Leerung der Mülltonnen am nächsten Tag verlief ohne Zwischenfälle. Seither ist alles wieder wie früher, doch der Anblick der puppengroßen Leiche verfolgt mich. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, ihre Entdeckung werde früher oder später noch Folgen für mich oder für uns alle haben. Welcherart diese Folgen sein könnten, vermag ich mir nicht vorzustellen, doch dürften sie wohl kaum angenehm ausfallen.

5 Nov 2019

AUTOREN

Eugen Egner

TAGS

Groteske
Müll
Leiche
Ufo
Groteske
Geige
Groteske
Funk
Kindheit

ARTIKEL ZUM THEMA

Die Wahrheit: Das Flüstern der Serviererinnen

Außergewöhnliche Lichterscheinungen im Café gebieten eigentlich den Einsatz klappernder Metallstangen. Es darf aber auch gratuliert werden.

Die Wahrheit: Alles Schwindel

Eine Straße. Nacht. Wirklichkeit. Oder eine konstruierte Welt. Mit Tricks erzeugt. Wie die Begleitung an seiner Seite. Auch ein Versuchsobjekt.

Die Wahrheit: Die Dämonen des Gehörs

Achten Sie auch auf Ihre Mensurlinie? Sollten Sie. Ansonsten kann es schnell zu akustischen Täuschungen auf der offenen Shepard-Skala kommen.

Die Wahrheit: Hubschrauber über den Schuhen

Wie konnte das nur geschehen? Ohne Fußbekleidung aufwachen? In einer Kunstgalerie? Es ist der Beginn einer fieberhaften Suche…

Die Wahrheit: Senderortung, welche Senderortung?

„Ein korpulenter Mann in hellblauem Anzug winkte mir zu und lud mich ein: „Kommen Sie, wir haben das Radio schon eingeschaltet!“

Die Wahrheit: Der zweite Bahnhof

Das Motiv eines Zweitbahnhofs tritt vorwiegend in Träumen von Menschen auf, die täglich mit der Eisenbahn zur Schule oder Arbeit und zurück fahren …