taz.de -- Buch „Adorno wohnt hier nicht mehr“: Sie sind dann mal weg

Jochen Schimmangs neuer Erzählband „Adorno wohnt hier nicht mehr“ handelt vom Verschwinden und welche Möglichkeiten daraus entstehen.
Bild: Der Autor Jochen Schimmang

Der Flaneur streunt nach Lust und Laune umher, lässt sich Zeit, ist unversehens um eine Ecke verschwunden. Das Herumstreifen kann eine Geisteshaltung und eine alltägliche Lebensform sein, die ein widerständiges Potenzial enthält: Freischweifende Charaktere sind auch in einer vermessenen Welt, im GPS-Zeitalter nie ganz zu fassen.

Jochen Schimmang, Jahrgang 1948, geht solchen Existenzen in all seinen Büchern auf den Grund. Immer tauchen Gestalten auf, die gern beiseite gehen, ausweichen, nicht richtig mitmachen. Da kann einem das Selbstgespräch der Frühromantikerin Rahel Varnhagen in den Sinn kommen: „Was tun Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.“ Oder man denkt an Adorno. In einer Passage der „Minima Moralia“ spricht der Philosoph vom Glück, davon, nichts zu tun wie ein Tier, auf dem Wasser zu liegen, Zaungast des Fortschritts sein. In den Büchern [1][von Jochen Schimmang gehört Adorno von Beginn an mit dazu].

Schimmangs Romane, Erzählungen und Essays sind ein intellektuelles Lesevergnügen: Sie zeigen auf leichte Weise, wie das Denken und das Spielen sich gegenseitig freisetzen und entzünden. Soeben ist ein neuer Band mit Erzählungen erschienen. Sie sind erfahrungsgesättigt, ihnen wohnt eine Fantasie inne, die vorsätzlich nicht ganz von dieser Welt ist.

So zum Beispiel: Ein Künstler möchte seinen 70. Geburtstag allein mit seiner Frau verbringen. Als Bewohner des platten Landes haben die beiden weite Aussicht und müssen entdecken: Aus allen Himmelsrichtungen nähern sich Kollegen, Galeristen, Jurymitglieder und Museumsdirektoren, um zu gratulieren. Mann und Frau flüchten auf den Dachboden, ziehen die Leiter ein und belauschen die Eindringlinge durch eine Abhöranlage.

Was ihnen zu Ohren kommt? Die Herren Hebel, Hegel und Hesel liegen sich mit Birgel, Jirgel und Schmirgel in den Haaren; Jesper und Vesper stoßen dazu. Eine Fraktion aus der Schweiz disputiert in Baseldütsch, Bärndütsch und Züritüütsch über kulturelle Knackpunkte. Der Künstler und seine Frau aber sind glücklich, unauffindbar versteckt zu sein.

Sämtliche Erzählungen des neuen Buchs handeln vom Verschwinden. Die Fiktion über den Künstler und die geprellten Gäste mit ihren kitzeligen Namen, die an Samuel Becketts Roman „Watt“ erinnern, kommt so irrlichternd, närrisch-hochgemut daher wie eine blanke Wunscherfüllung.

Dabei hat das Verschwinden auch traurige Seiten: Jemand oder etwas fehlt, wird schmerzlich vermisst. In einer anderen Geschichte hat eine Frau ihren Liebsten verloren; er ist spurlos verschwunden. Sie glaubt, ihn irgendwo in der Menschenmenge gesehen zu haben; ein Irrtum. In ihrem Wunsch nach Ruhe flüchtet sie in eine Kirche. Dabei glaubt sie nicht an Gott, der ein Wunder wirken und ihr den Liebsten zurückgeben könnte. Die gemeinsame Zeit wird lebendig, und plötzlich weiß sie: Sie hat diese Zeit erlebt und nicht erfunden; das Vergangene war wirklich da.

„Es war einmal“: Wenn Jochen Schimmang über Formen und Figuren des Verschwindens schreibt, liegt darin keine nostalgische, raunende Beschwörung. Seine Darstellungen von realen Städten, Landschaften und Milieus sind äußerst genau. Von diesen präzisen Bildern heben sich die fiktiven Helden ab. Sie sind bewusst vage gezeichnet, und sie wirken auch nicht gerade wie selbstgewisse Herren im eigenen Haus.

Da ist der Maler Gutermuth, verschwunden 1931. Rothermund sucht nach seinen Spuren und schreibt eine Biografie. Es stellt sich heraus: Gutermuth hatte es einfach im Leben, weil er nie lebte. Aber was macht eine seriöse Notarin, wenn sie den mittlerweile selbst verschollenen Rothermund in einem englischen Kaff aufspürt, wo er als Maler unter dem Namen Gutermuth arbeitet? Die Notarin taucht eines Tages unter.

Auch die verspielten Texte haben einen philosophischen Hintergrund: Sie unterlaufen das Konstrukt einer ungebrochenen, stabilen Identität. Der essayistische Text „Herr Rutschky oder Der Optimismus“ gibt in Form eines Selbstinterviews Auskunft über Begegnungen mit dem 2018 verstorbenen Schriftsteller und Fortschrittsfreund Michael Rutschky. Mittlerweile zeigen Rutschkys Tagebücher, wie wenig freundlich er über die nächsten Leute in seiner Umgebung dachte; aber Schimmang hält sich damit nicht lang auf. Er umkreist hier die Auseinandersetzungen zwischen optimistischen und kulturkritischen Positionen, die sich mit dem Toten nun nicht mehr fortsetzen lassen.

Entschlossene Jetztzeit

Menschen, Techniken, Dinge und Sprechweisen verschwinden. Die autobiografisch grundierte, titelgebende Geschichte „Adorno wohnt hier nicht mehr“ schildert einen ausschweifenden Spaziergang des Ich-Erzählers durchs heutige Frankfurt am Main. Auch der Suhrkamp-Verlag ist längst umgezogen. Und inzwischen sagt man nicht mehr „Trinkhalle“ oder „Wasserhäuschen“, wenn man von einem Kiosk spricht. Ein Teil der Stadt wird für einen Langlauf abgesperrt.

Der Erzähler stößt nur auf entschlossene Jetztzeit, die ihm sagt: „Geh weiter, hier gibt es nichts zu erinnern.“ Also macht er sich davon und sinniert, ob er jetzt wohl aus einem der Bücher von Wilhelm Genazino oder Ror Wolf entsprungen ist. Im Buch findet man mitunter auch Spuren von den Beatles, von Natalia Ginzburg, Lars Gustafsson, Marie Luise Kaschnitz und anderen. Die entsprechenden Zitate und Anspielungen sind keine Dekoration – Schimmang betreibt eine behutsame Verflechtung künstlerischer Stimmen.

Natürlich können Geschichten, die von ungefestigten Existenzen und vom Verschwinden erzählen, einen melancholisch anwehen. Die Helden sind sich ihrer realen Ohnmacht scharf bewusst. Aber es geht ihnen auf eigenartige Weise gut. Vielleicht, weil sie darauf bestehen: Neben dem Raum der Wirklichkeit gibt es auch den des Möglichen.

Diese Ohnmacht plus Genauigkeit plus das bewusste In-der- Schwebe-Halten: Das alles miteinander macht die Schönheit des neuen Buchs von Jochen Schimmang aus.

7 Oct 2019

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Peters

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