taz.de -- Studie zu regionalen Unterschieden: Tristes Landleben?

Wer die Zukunft positiv sieht, die Natur und die Leere liebt, fühlt sich auch auf dem Land nicht „abgehängt“. Wenn das Internet flott genug ist.
Bild: Eintönig? Landstraße nahe Pattensen in Niedersachsen

Berlin taz | Der Landkreis Tirschenreuth in der Oberpfalz zum Beispiel. Die Menschen hier wirken „zufrieden“. „Man ist stolz darauf, vom rückständigen Zonenrandgebiet zum ‚Herzen Europas‘ avanciert zu sein“ heißt es im neuen „Teilhabeatlas Deutschland“. Die alten Porzellan-, Knopf- und Textilindustrien in der Nachkriegszeit sind verschwunden, aber Maschinenbau, Metall- und Kunststoffindustrie siedelten sich neu an. Ein mobiler Dorfladen mit Onlinebestellservice fährt die Dörfer ab. Das „Baxi“, ein On-Demand-Busverkehr, kommt auf Bestellung.

„Wo sich eine positive Entwicklung, eine positive Dynamik abzeichnet, schätzen die Menschen die Lage optimistisch ein“, sagt Manuel Slupina, Mitautor des Teilhabeatlas’, den das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und die Wüstenrot Stiftung am Donnerstag vorstellte. Im Rahmen der Studie erhoben die Forscher regionale Daten zu Einkommen und Sozialstrukturen und befragten dann 300 Menschen in 15 Kreisen und kreisfreien Städten Deutschlands nach ihrer subjektiven Zufriedenheit mit der Heimatregion.

Von den objektiven Daten her zeigten sich viele ländliche Regionen im Osten und einige wenige im Westen als benachteiligt – es gibt dort weniger Einkommen, weniger Arbeitsplätze, weniger Ärzte, ein langsames Internet. Als entscheidender Faktor für die subjektive Wahrnehmung erwies sich aber die Zukunftserwartung: „Wenn Krankenhäuser, Grundschulen schließen und Buslinien ausgedünnt werden, wenn kaum noch junge Menschen zu sehen sind, dann empfindet man die Region eher als ‚abgehängt‘“, sagte Slupina.

Im Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt etwa ist die Langzeitarbeitslosigkeit hoch, auf den Straßen in Sangerhausen, Eisleben und Hettstedt prägen [1][ältere Menschen mit Gehstöcken und Rollatoren das Stadtbild]. „Die Kinder sind weg. Niemand kümmert sich um die Alten“, sagte eine Befragte im Interview.

Umgekehrt aber können die Ansiedlung von Unternehmen, der Zuzug junger Familien wie zum Beispiel im Landkreis Tirschenreuth, neue Initiativen, etwa die Wiederbelebung von Dorfläden wie im Ostalbkreis oder im Landkreis Gütersloh ein Gefühl von positiver Dynamik in eine ländliche Region bringen.

Prägend für das Gefühl „abgehängt“ zu sein oder nicht, ist dabei laut Studie die Anbindung an das Breitbandnetz. „Eine gute Internetverbindung kompensiert so manche andere Versorgungslücke“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts. Ein schnelles Netz zu haben spielt für Unternehmen, Freizeit, Einkäufe, Schule und [2][Homeoffice] die wichtigste Rolle.

Wenn die Bundesregierung den Anschluss ländlicher Regionen fördern wollte, solle sie „eher darauf setzen, die Breitbandversorgung zu verbessern, als zu versuchen, Unternehmen und Behörden in die entlegensten Winkel der Republik zu drängen“, schreiben die Forscher im Teilhabeatlas. Sie fordern eine Entbürokratisierung der staatlichen Förderung.

In der Einschätzung, ob man sich wohl fühlt am Wohnort oder eben nicht, spielen aber auch die eigenen Maßstäbe eine Rolle. Einige Befragte „jammern auf hohem Niveau“, sagt Klingholz, wenn beispielsweise die Bewohner einer Region eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Lebenssituation erwarteten und diese sich eben so nicht mehr einstelle. Es gebe aber auch eine „Zufriedenheit der Genügsamen“. Wer die Natur liebt, hat es offenbar einfacher. „Wenn du rausgehst und eine halbe Stunde lang keinen Menschen siehst, dann bist am Land … Es gibt nix Krasseres und Schöneres als hier zu wohnen“, sagt ein Gesprächspartner im Landkreis Tirschenreuth.

23 Aug 2019

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Barbara Dribbusch

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