taz.de -- Journalist über die Situation in Idlib: „Es bleiben Nudeln und Kartoffeln“
Den Menschen in Nordwest-Syrien fehlt das Allernötigste, sagt der Journalist Akram al Ahmed. Trotzdem wünschen sie sich das Assad-Regime nicht zurück.
taz: Herr al-Ahmed, können Sie unabhängig aus Idlib berichten?
Akram al-Ahmed: Bis August 2018 war ich dauerhaft in Idlib, habe dann aber aufgrund der Gefahr und den Drohungen zu pendeln begonnen. Momentan bewege ich mich zwischen der Türkei und Syrien. Wenn ich in Syrien bin, halte ich mich in verschieden Dörfern und Kleinstädten auf.
In weiten Teilen Idlibs haben die Islamisten von Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) das Sagen. Lassen sie Journalismus zu?
HTS hat versucht, mich und andere unabhängige Kollegen einzuschüchtern. Erst wollten sie uns zwingen, uns ihrer Medienorganisation anzuschließen, dann forderten sie eine Genehmigung für unser Pressezentrum und schließlich wollten sie das Zentrum zumachen. Aber wir wussten, dass sie das nicht wagen würden. Das hätte die öffentliche Meinung gegen sie aufgebracht.
Wie stehen die Menschen in Idlib zur HTS-Miliz und ihrer sogenannten Heilsregierung?
Achtzig Prozent lehnen sie ab. In letzter Zeit hat die Heilsregierung versucht, den Menschen über Steuern Geld abzuziehen. Viele haben Widerstand geleistet, aber inzwischen zahlen sie, weil HTS eine einflussreiche militärische Kraft ist und über etwa siebzig Prozent von Idlib und Nord-Hama herrscht. Die Steuern treiben die Preise in die Höhe. Hinzu kommt, dass die Leute natürlich begreifen, dass das syrische Regime und Russland HTS als Ausrede benutzen. So rechtfertigen sie ihr Bombardement in Idlib. Viele machen HTS dafür verantwortlich. Aber natürlich hat HTS auch Unterstützer.
Sehen die, die HTS ablehnen, im Assad-Regime eine Alternative?
Die meisten nicht. Nicht HTS, sondern das Regime hat eine Million Menschen getötet, das Regime hat etwa zwölf Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben und hat Hunderttausende in den Gefängnissen getötet. Die Leute wägen zwischen diesem und jenem Unheil ab. Ein Beweis dafür ist, dass die Menschen nach Norden geflohen sind, obwohl das Regime die Übergänge geöffnet hat, sodass sie in die Regimegebiete hätten fliehen können.
Wohin genau sind sie geflohen? Die Grenze zur Türkei ist zu.
Es bleibt nichts außer Nord-Idlib, wo der Großteil hin ist, sowie die Gebiete um Afrin und Azaz. In die kurdischen Gebiete einzureisen ist verboten, außer man hat einen Bürgen.
Wie geht es den Menschen materiell?
Viele Leute können sich das Allernötigste nicht leisten. Weil ihnen das Geld fehlt, sich ein Zelt zu kaufen, harren viele unter freiem Himmel aus. Der extreme Preisanstieg von Grundnahrungsmitteln hat das Leid der Menschen zusätzlich erhöht. Die Leute sehen sich nach billigen Alternativen zu Produkten wie Fleisch um. Was bleibt, sind Nudeln und Kartoffeln, die in unserer Region angepflanzt werden.
Gehen die Kinder in die Schule?
Zwei Millionen Kinder in Idlib sind nicht in der Schule. Sie sind grundlegender international verbriefter Rechte beraubt. Es mangelt an Sicherheit, Kleidung, Essen und Spielmöglichkeiten. Krankheiten breiten sich aus, Analphabetismus nimmt stetig zu. Hinzu kommt ein großes Problem: Es gibt achtjährige Kinder, die noch nie registriert wurden und keine Dokumente haben – zum Beispiel weil ihr Vater getötet wurde, etwa bei Kindern von Dschihadisten, die Syrerinnen geheiratet haben. Viele von ihnen kamen aus den IS-Gebieten nach Idlib.
Das Regime bombardiert Idlib, aber HTS scheint entschlossen, sich zu verteidigen. Wie geht es weiter?
Ich hoffe, dass die demokratischen Kräfte unterstützt werden und weder das Regime noch die Extremisten Oberhand gewinnen. Sobald das Regime weg ist, werden sich alle extremistischen Kräfte auflösen. Wenn die Leute unter normalen Umständen leben, wird extremistisches Gedankengut keinen Raum mehr haben. Das haben wir letztes Jahr gesehen: Als der Beschuss aufhörte, sind die Leute wieder auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren.
13 Jun 2019
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