taz.de -- Sibylle Berg auf „Brainfuck“-Tour: Gewalt, Sex und Bullshit

Lesung? Pah! Die Schriftstellerin Sibylle Berg und ihr furioser Roman „GRM. Brainfuck“ in Hamburg (und anderswo).
Bild: Pop und Glamour sind weit weg: Maskierter Mann bei Ausschreitungen in London, November 2011

Der Zufall ist ein elektrisches Eichhörnchen: „Ich hasse Max“, so steht es, als dieser Text geschrieben werden möchte, am unteren Bildschirmrand. „[1][Sibylle Berg]s Roman ‚GRM‘: Ich hasse Max“, um genau zu sein, es ist der [2][Facebook-Post] einer deutschen Zeitung mit Qualitätsfeuilleton, von Berg in die eigene Timeline geworfen (oder wenigstens in ihrem Auftrag).

Dahinter steckt [3][einer von nicht wenigen Texten] zu ihrem neuen Buch, Roman Nummer 14, so heißt’s, neben noch viel mehr Theaterstücken: [4][eine produktive Frau], die Wahlschweizerin. Nun also Science-Fiction? Dass es darin um eine „Überwachungsdiktatur“ geht, ruft uns schon der Klappentext entgegen, und in der Tat spielt „GRM“ (Kiepenheuer & Witsch 2019, 640 S., 22,99 Euro) in der Zukunft, aber keiner Jahrhunderte (oder auch Planetensysteme) entfernten.

Dazu sind die Zutaten dann nämlich doch zu vertraut: soziale Ungleichheit, kaputte Familien, Drogen, Überwachung, Buckeln und Treten. Dieser Zukunftsroman, könnte man sagen, handelt recht deutlich von der Gegenwart (so wie’s mancher Definition nach das Genre ja grundsätzlich tut; alles andere ist Fantasy, also Eskapismus). Einer Gegenwart freilich, mal weniger, mal mehr zugespitzt und überzeichnet: [5][Britannien nach dem Exit] hat Berg sich zum Schauplatz gewählt, und dort zunächst auch noch einen fiktiven Ort im Norden, da also, wo dieses Britannien so viel weniger swinging ist, so viel weniger glamourös als in London, [6][in dem sich vieles ballt, auf das sich aber halt auch so vieles beschränkt]: der Chic, der Pop, [7][das ganz große Geld].

Weit weg von swinging London

Auch wenn es sie im Weiteren eben dorthin verschlagen wird: Vom London-Kitsch, auch in seiner [8][„Cool Britannia“-Weiße-Gitarren-Jungs-Nostalgie] könnten die vier Protagonist*innen des Buches kaum weiter entfernt sein. Ihr London ist eines der allgegenwärtigen Überwachung – ob durch Kameras oder die sozialen Medien – und der „Karmapunkte“, der Währung verträglichen Sozialverhaltens.

Den Soundtrack zu alldem würde man auch den [9][knurrigen East-Midlands-Sozialhilferappern Sleaford Mods] anvertrauen wollen, aber die sind ja auch schon wieder so schrecklich … alt. „GRM“ indes, das merkwürdige Akronym: Was der darin geremixte Grime sei, [10][also dieses spezifisch britisch-urbane Musikgenre], das zu erklären hat einigen der Rezensierenden ulkige Pirouetten abgerungen.

Berg geht die Sache cleverer an: Sie bringt einfach welche mit von denen, [11][die klingen wie das, was ihre Romanfiguren gerne hören]. Denn dass ein derart böses, schnelles, apokalyptisches Buch nicht gediegen am Tisch sitzend, darauf ein Wasserglas, zu bewerben ist: klar. Und [12][so gibt’s] – auch jetzt in Hamburg – „eine Performance zum Buch“, so kündigt es Kampnagel an, „ein Grime Konzert“, na gut: auch „eine Lesung“, die zugleich „ein Videoabend“ sei – und „eine Freude!“

Der erwähnte Max übrigens ist weder der Motorsport-Grande Mosley noch der [13][1980er-Proto-Virtual-Reality-Schmierlappen Headroom]: Nein, Berg hasst erklärtermaßen Max Frisch, den ollen Mit-Schweizer und Moralisten.

13 Apr 2019

LINKS

[1] /!228201/
[2] https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10157369694892122&id=257091077121&__xts__%5B0%5D=68.ARB7twsv4bHVyPF-xit_6pKLymAeLxZAT4kOF8nmsO2-uQksMWZGEU4-N_pqdIxvI2U-To0wE0eBlNA9IWgGxLYIvvUsVSuv0Det81ByvHJjjojI-vAgiWDqjRqGJlrXygELIkDuoy6M6iITSBj2FhqYPkN1nx3LY3_QJAlLzJFAbk9Sx8UPFr_gJ__lcJr3LP8DHw7Z1X0xRGOkM0XVHKa9iNe5CgsBWJjRvxkhhRElLTcui8z_AvxZYA_EOs5qyTgTc_SXxuBtmFhJa706PXvzx5xFGJN7bUz_bjFVzwb5zvJO6_diUdsmLcDkQSfMky8bjZDJ4QKOA6HAuCUD&__tn__=-R
[3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/ich-hasse-max-frisch-und-sibylle-bergs-roman-grm-16132199.html
[4] /!5057365/
[5] /!t5313864/
[6] /!1347933
[7] https://www.theguardian.com/politics/2018/dec/11/north-south-economic-divide-set-to-narrow-as-brexit-hits-london-growth
[8] /!1353457/
[9] /!5041868
[10] /!5564020/
[11] https://www.youtube.com/watch?v=723UbV7Wcbk
[12] https://www.kiwi-verlag.de/news/sibylle-berg-auf-tour-mit-ihrem-neuen-roman-grm-brainfuck.html
[13] https://www.youtube.com/watch?v=6epzmRZk6UU

AUTOREN

Alexander Diehl

TAGS

Literatur
Schwerpunkt Brexit
Zukunft
Grime
Thalia-Theater
Proletariat
Sibylle Berg
Roman
Schwerpunkt Brexit
Michel Houellebecq

ARTIKEL ZUM THEMA

„GRM Brainfuck“ am Thalia Theater: Genervte Zeiten

Dystopie zum Mitwippen: Das Hamburger Thalia Theater hat Sibylle Bergs Roman „GRM Brainfuck“ inszeniert.

Londoner Dancefloorproduzent East Man: Plötzlich diese Unterschicht

Hi-Tek meets Low-Class: East Man und sein Album „Prole Art Threat“ fokussiert auf Raptalente: Wie bedrohlich ist der neue Proletkult aus London?

Autorin Sibylle Berg über die neuen 20er: „Unruhe herrscht weiter, wie immer“

Was kommt im neuen Jahrzehnt auf uns zu? Die optimistische Pessimistin Sibylle Berg über schlafende Populisten, das Netz und einfachen Sex.

Buch „GRM“ von Sibylle Berg: Mehr Brainfuck als Roman

Es wird alles immer schlimmer werden: Sibylle Berg hämmert uns in ihrem schonungslosen Buch „GRM“ die Krisen der Gegenwart ein.

Nordengland vor dem Brexit: Tristesse Royale im United Kingdom

Die Labour-Hochburgen im Norden haben mehrheitlich für den Brexit votiert. Die britische Linke ist weiterhin gespalten, wie sie damit umgehen soll.

Beziehungsliteratur von Sibylle Berg: Untenrum unglücklich

Liebe oder Sex? Abenteuer oder Sicherheit? Absurd und elegant erzählt Sibylle Berg von einem Paar: „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“.

Britische Autorin über August-Krawalle: "Die Jugendlichen haben keine Orte"

Nach den Krawallen wird sich die Spaltung britischer Städte noch verstärken, so die Autorin Anna Minton. Den Ausbruch der Gewalt hält sie auch für ein spätes Resultat der Politik von New Labour.

Videoüberwachung verändert Verhalten: Überwacht bis in die Kaffeeküche

Gefühlte Überwachung beginnt schon, bevor eine Kamera montiert ist. Doch was fehlt, sind unter anderem Langzeitstudien. Die sollen klären, wie Menschen damit umgehen.