taz.de -- Nordengland vor dem Brexit: Tristesse Royale im United Kingdom

Die Labour-Hochburgen im Norden haben mehrheitlich für den Brexit votiert. Die britische Linke ist weiterhin gespalten, wie sie damit umgehen soll.
Bild: Leave oder remain? Für viele in Großbritannien geht es um die eigene Identität

Wenn es eine Brexit-Urszene gibt, trägt sie sich in Nordengland zu. Am 28. April 2010 steht der damalige Labour-Premierminister Gordon Brown bei einem Wahlkampfauftritt in der Kleinstadt Rochdale der Rentnerin Gillian Duffy gegenüber. „Mein Leben lang habe ich Labour gewählt“, sagt sie, „jetzt schäme ich mich dafür.“ Ihre Rente werde zu stark besteuert, die Enkel müssen hohe Studiengebühren zahlen. Und irgendwann erklärt sie: „Man darf nichts mehr über Migranten sagen. All diese Osteuropäer – wo kommen die her?“

Gordon Brown verteidigt sich freundlich und fährt davon. Was er nicht weiß: Das Mikrofon des Nachrichtensenders Sky zeichnet auf, als er in der Ministerkarosse die alte Dame als „bigott“ beschimpft. Das ganze Land hört zu, die Wahl einige Wochen später verliert Brown deutlich.

„Der Vorfall zeigt, wie schwer es Politikern in Westminster fiel, das Leben derjenigen zu verstehen, auf deren Seite sie sich gewähnt haben“, sagt der Soziologe William Davies vom Londoner Goldsmiths-College, als er sich das Video für die taz nochmals ansieht. „Es tut sich eine Kluft auf zwischen den ökonomischen Erzählungen der Politik und den Erzählungen, die um Identität kreisen.“ Der Brexit ist auch ein Resultat davon. Viele Labour-Hochburgen im Norden Englands haben „Leave“ gewählt, auch Rochdale, 20 Kilometer nördlich von Manchester gelegen.

1844 wurde hier die welterste Genossenschaft gegründet. Seit dem EU-Referendum 2016 dienen Städte wie Rochdale als Argument, dass die britische Linke sich wieder rückbesinnen solle: auf die traditionellen Werte der Arbeiterklasse, auf die „echten Nöte der einfachen Leute“, wozu auch die „berechtigte Sorge“ vor zu viel Einwanderung gehöre.

Nichtprogressive Nostalgie

„Diese Rückbesinnung ist keine progressive Form von Nostalgie“, sagt Owen Hatherley, Architekturkritiker und Parteimitglied von Labour, auch ihm wird das Video vorgespielt. In seinem Buch „The Ministry of Nostalgia“ hat er untersucht, wie stark die politischen Diskurse Großbritanniens von Nostalgie nach einem goldenen Zeitalter durchtränkt sind. Die Rechte beschwört den Geist des Zweiten Weltkriegs, als das Land gegen den äußeren Feind des Faschismus zusammenrückte, die Linke die unmittelbare Nachkriegszeit, als die staatliche Gesundheitsbehörde NHS entstand, die allen Briten unabhängig von ihrem Einkommen eine Krankenversicherung ermöglichte und die Labour-Wählerschaft fast vollständig weiß gewesen sein soll.

„Die Arbeiterklasse, auch in Rochdale, war schon damals und ist auch heute multikulturell“, sagt Hatherley und erinnert an den Streik beim Filmhersteller Grunwick in London von 1976 und 1978. Dort kämpfte eine mehrheitlich weibliche, aus Süd-Ost-Asien stammende Belegschaft gegen die Entlassung eines Kollegen und erfuhr dabei Unterstützung von vielen anderen Gewerkschaften, etwa von den mächtigen Bergarbeitern unter dem Vorsitzenden Arthur Scargill. „Schon Ende Siebziger war klar, dass die Arbeitskämpfe zusammenhängen.“

Auch gegenwärtig betrachten viele BAMEs (Black, Asian and Minority Ethnicities) in Nordengland die Labour-Party als politische Heimat. „An meiner Schule genoss Labour fast 100-prozentige Zustimmung“, sagt Balraj Samrai. Er ist DJ und Produzent bei der Bassmusik-Crew Swing Ting und hat zur Zeit des EU-Referendums an einem College im multikulturellen Süden von Manchester gearbeitet. Im Unterricht hat er Probeabstimmungen veranstaltet. „Rund die Hälfte hätte 'Leave’ gewählt“, erzählt Samrai. „Die SchülerInnen haben geglaubt, dass der NHS dadurch mehr Geld erhalten würde.“

Megan Coyne mag sich dem nicht anschließen: „Der NHS wurde von der konservativen Regierung kaputt gespart.“ Die Rentnerin steht am 23. März, dem Tag der großen Londoner Pro-EU-Demo, in der Innenstadt von Manchester, wo sie eine Kundgebung gegen den EU-Austritt mitorganisiert hat. Coyne kommt aus einer sozialistischen Familie, ihr Vater war Schmied. Sie stammt aus Bolton, einer mittelgroßen Stadt im Umland von Manchester.

17 Prozent der Einwohner gehören ethnischen Minderheiten an, der Durchschnittslohn liegt mit umgerechnet etwa 26.000 Euro jährlich weit unter dem Landesdurchschnitt. Auch Bolton hat ‚Leave‘ gewählt. „Den Leave-Wählern war nicht klar, wie sehr die EU Kultur, Sport und die Erneuerung der Infrastruktur vor Ort finanziell gefördert hat“, sagt Megan Coyne. „Wir Remain-Wähler wissen das, darum sind wir jetzt so verzweifelt.“ Coyne unterstützt dennoch die sozialpolitischen Ideen von Labour-Parteichef Jeremy Corbyn, „aber ich verstehe nicht, warum die Parteiführung in Fragen der EU so handelt, wie sie es tut.“

„Die Gründe dafür sind vielfältig“, sagt Jeremy Gilbert. Er unterrichtet Cultural Studies an der University of East London und ist Mitglied bei der linken Labour-Gruppe Compass. „Corbyn hat fast alle politischen Ideen von Tony Benn übernommen.“ In den Achtzigern habe die Labour-Linke um Benn große Hoffnungen in die sozialistische Mitterrand-Regierung in Frankreich gesetzt, der seine sozialdemokratischen Reformen aber nicht gegen die EU durchsetzen konnte. Daraus habe die Labour-Linke wiederum die Schlussfolgerung gezogen, dass in Europa nichts zu holen sei.

Während des EU-Referendums habe zudem noch ein anderer Aspekt eine Rolle gespielt: die harte Haltung der EU gegenüber der griechischen Linkspartei Syriza. „Ich habe ‚Remain‘ gewählt“, sagt Jeremy Gilbert, „aber ich konnte es wegen Griechenland nicht über mich bringen, für die EU zu werben.“ Man könne keine Schlussfolgerungen vom Griechenland-Konflikt auf Großbritannien ziehen, denn das Vereinigte Königreich war nie Teil der Eurozone, sagt Owen Hatherley. „Die EU-Sozialcharta und der Vertrag von Maastricht haben bei uns dazu beigetragen, die neoliberalen Reformen von Margaret Thatcher abzudämpfen“, erläutert er.

Aber wie erklärt man dies Labour-Anhängern wie Gillian Duffy, der Rentnerin aus Rochdale? Kurz vor dem EU-Referendum erklärte sie in der BBC, sie habe Angst um ihre englische Identität und wolle keine Europäerin werden. „Diese Leute glauben eine Erzählung über die Welt, die ihnen von der Boulevardpresse erzählt wurde“, sagt Jeremy Gilbert. „Wir müssen ihnen die ökonomischen Zusammenhänge anschaulich erklären – aber auf radikaldemokratische Weise.“

Seine Organisation Compass hat sich zuletzt für die „Citizen’s Assembly“ ausgesprochen, eine Form der Bürgerbeteiligung, die auch 2018 beim Referendum über die Legalisierung von Abtreibung in Irland erfolgreich angewandt wurde. Dabei wird eine repräsentative Gruppe der Bevölkerung ausgewählt, die den Gegenstand einer Volksabstimmung erarbeitet und schließlich das Referendum samt der Optionen, die zur Abstimmung stehen, vorbereitet. „Es geht darum, die Menschen wieder als Bürger zu ermächtigen“, sagt Gilbert.

Dazu gehören auch Veränderungen in der Wirtschaftspolitik. „Wir können gerade beobachten, wie man mehr Macht an die Städte zurückgeben kann“, sagt William Davies und verweist auf Preston. Die Stadt im Nordwesten hat klar „Leave“ gewählt, die linke Stadtverwaltung hat daraus eigene Schlüsse gezogen. Sie vergibt öffentliche Aufträge an lokale Unternehmen und unterstützt die Gründung genossenschaftlicher Betriebe. „Der Nordwesten Englands war nicht nur der Geburtsort der industriellen Revolution, sondern auch von sozialistischen Experimenten – selbstorganisierten Betrieben und Konsumgenossenschaften“, sagt William Davies. „Viele Leute denken, wenn etwas Hoffnung macht, ist es die Wiederentdeckung der Lust am linken Experiment.“

Diese Recherche wurde unterstützt vom Goethe-Institut.

28 Mar 2019

AUTOREN

Christian Werthschulte

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