taz.de -- Kommentar Protest gegen Erdoğan: Die Ignoranz der Linken

Der Protest gegen Erdoğan in Berlin und Köln war spärlich. Die Linken haben die türkischen Regimegegner fast allein gelassen.
Bild: 6.000 gingen in Berlin gegen Erdoğan auf die Straße

Aus ganz Deutschland sind am Samstag [1][Tausende Anhänger des türkischen Präsidenten Erdoğan nach Köln] gereist, um bei seiner Einweihung der Ditib-Zentralmoschee dabei zu sein. Die Polizei geht von bis zu 20.000 Menschen aus, die sich an den Absperrungen versammelt hatten.

Dabei wurden offen nationalistische und islamistische Symbole gezeigt, zahlreiche Erdoğan-Anhänger erhoben die Hand zum Rabia-Gruß der ägyptischen Muslimbrüder oder zum Wolfsgruß der rechtsextremen Grauen Wölfe. Deren Ideologie beinhaltet eine Symbiose aus türkischem Nationalismus und Islamismus.

Dass die Nationalisten dabei weitestgehend ungestört agieren konnten, ist enttäuschend. Die Teilnehmerzahlen der Gegendemonstrationen blieben weit hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück: In Köln demonstrierten nur ungefähr 2.500 Erdoğan-Gegner, [2][in Berlin nur etwa 6.000].

Außer Linken mit kurdischem oder türkischem Migrationshintergrund, wenigen Antifa-Gruppen und der Alevitischen Gemeinde interessiert es anscheinend nur wenige, wenn ein autoritärer Unterdrücker hofiert wird und ihm Tausende Anhänger auf den Straßen die Treue schwören.

Ignoranz gegenüber den türkischen Nationalisten

Große Teile der Linken und Linksliberalen überlassen es den migrantischen Regimegegnern, gegen den Autokraten Erdoğan zu demonstrieren. Sie ignorieren die türkischen Nationalisten, obwohl deren Ideologie allem widerspricht, wofür sie stehen. Und sie lassen diejenigen aus Einwandererfamilien im Stich, die von den Erdoğan-Anhängern angefeindet werden: Regimekritiker, Kurden, Linke, Feministinnen sowie religiöse und sexuelle Minderheiten.

Es ist ein starkes und wichtiges Zeichen, wenn in Berlin 25.000 Menschen gegen die AfD demonstrieren oder wenn in Chemnitz 65.000 Menschen ein Konzert gegen rechtsradikale Ausschreitungen besuchen. Es ist problematisch, dass es kaum erwähnenswerten Protest gegen Erdoğan gegeben hätte, wenn kurdische, türkische, alevitische und jesidische Gruppen nicht dazu aufgerufen hätten.

30 Sep 2018

LINKS

[1] /Tuerkischer-Staatspraesident-in-Koeln/!5539253
[2] /Tuerkischer-Staatspraesident-in-Berlin/!5539205

AUTOREN

Frederik Schindler

TAGS

Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
Ditib
Köln
Selbstverbrennung
Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
taz.gazete

ARTIKEL ZUM THEMA

Selbstverbrennung in Ingolstadt: Videobotschaft gegen Erdoğan

Aus Protest gegen den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten verbrannte sich ein junger Kurde. Seine Familie kann es nicht fassen.

Meşale Tolu über Staatsempfang: „Erdoğan sollte sich zu Hause fühlen“

Nach seinem Besuch in Deutschland ist der türkische Präsident wieder abgereist. Die Journalistin Meşale Tolu, die monatelang in der Türkei in Haft saß, zieht Bilanz.

Türkischer Staatspräsident in Köln: Hinterzimmer statt Schlossempfang

Unter Ausschluss der deutschen Öffentlichkeit hat Recep Tayyip Erdoğan eine der größten Moscheen Europas eröffnet.

Türkischer Staatspräsident in Berlin: Proteste für und gegen Erdoğan

Es ist sein erster Besuch, seit seiner Wahl im Juni zum Präsidenten. Recep Tayyip Erdoğan ist auf Staatsbesuch in der deutschen Hauptstadt.