taz.de -- Start der Para-EM in Berlin: Zum Abflug bereit
Am Montag beginnt in Berlin die Para-EM mit über 700 AthletInnen. Das sportliche Niveau ist gestiegen. Aber an der Inklusion hapert es noch teilweise.
200 Gramm wiegt die Medaille, sie ist mit Blindenschrift versehen, und Berlin hat ganz gute Aussichten darauf, eine mitzunehmen. „Die Chancen sind groß, aber man muss nicht zwangsläufig damit rechnen“, sagte Landestrainer Ralf Otto jüngst auf die Frage nach einer Berliner Medaille bei der Para-EM. „Das Niveau ist sehr hoch.“
Vom 20. bis 26. August findet die Para-EM im Jahnsportpark statt. Über 700 AthletInnen aus 37 Nationen treten an, es gibt 191 Entscheidungen in Disziplinen wie Sprint, Kugelstoßen, Speerwurf, Weitsprung, Diskuswurf oder Rennrollstuhl. 41 deutsche AthletInnen nehmen teil, davon drei aus Berlin.
Es ist ein ähnliches Konzept wie bei der EM der Nicht-Behinderten zwei Wochen zuvor: Deutschland setzt auf Masse. Das macht Medaillen wahrscheinlicher, und das Stadion jubelt ja eifrig, wenn ein Deutscher da steht, auch wenn er Letzter wird. Bei der Para-EM tritt jetzt eine deutsche Mannschaft an, die fast doppelt so groß ist wie vergangenes Jahr in London. Da gab es 22 deutsche Medaillen.
„Das sportliche Niveau der Konkurrenz hat sich deutlich verbessert“, sagte allerdings der deutsche Rennrollstuhlfahrer Alhassane Baldé. Der Para-Sport, das erzählen auch andere, hat sich stark entwickelt. Rekorde fallen, erfahrene Stars kommen an ihre Grenzen, und lange vorbei ist die Zeit, als eine Teilnahme mit etwas Training beinahe zwangsläufig auch eine Medaille bedeutete. Spitzensportler wie der deutsche Kugelstoß-Weltrekordler Niko Kappel sind Profis. Und doch ist die Leistungsspitze in vielen Disziplinen noch dünn. Nach wie vor ist es gut machbar, von einer Disziplin auf die andere umzusatteln oder gleich in mehreren anzutreten.
Thomas Ulbricht ist so einer. Er hat vom Berliner Trio vielleicht die größten Chancen auf einen Titel. Der 33-jährige Routinier, der erst Fünfkämpfer, dann lange Sprinter war, tritt jetzt im Speerwurf an. Auch altersbedingt, da muss er weniger laufen. Er bringt eine eindrucksvolle Empfehlung von vier WM-, vier EM- und zwei Paralympics-Medaillen mit.
Ali Lacin, der Berliner Sprinter, der über 100 und 200 m antritt, stieg erst nach den Paralympics von London 2012 in den Sport ein; heute ist er Nummer 3 der Weltrangliste und erhofft sich seine erste große Medaille. „Ich rechne schon mindestens mit Silber“, sagte er. „Aber ich hoffe natürlich auf Gold.“ Komplettiert wird das Berliner Trio von Speerwerfer Andreas Lehmann, auch vom PSC Berlin, der 42 Meter weit wirft und sich ebenfalls eine Medaille zum Ziel gesetzt hat. Sie trommeln fleißig fürs Turnier, aber nicht jeder ist rundum zufrieden.
„Mit einer besseren Führung könnte der deutsche Behindertensport noch viel stärker sein“, kritisierte Thomas Ulbricht im Juni gegenüber der Berliner Morgenpost. Zum Beispiel, indem man die Para-Sportarten endlich bei ihren jeweiligen Fachverbänden angliedere statt beim Behindertensportverband. „Andere Länder sind weiter als Deutschland“, klagte auch Weitsprung-Star Markus Rehm. Dass die Heim-EM einen neuen Schub bringt, ist denkbar, aber längst nicht zwangsläufig. Rund 10.000 Tickets insgesamt waren im Juli verkauft; der Jahnsportpark fasst je 20.000 Plätze an sechs Tagen. Vieles wird leer bleiben. Auch weil man absehbar den Großteil der Werbung auf die EM der Nicht-Behinderten konzentrierte.
Mit tatsächlicher Inklusion tut sich der Sport oft noch schwer. Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands, kritisierte vorab, dass der Europäische Leichtathletikverband (EAAF) die Titelkämpfe der Behinderten nicht in das Programm der olympischen Athleten integriert habe. „Die EAAF hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden und eine große Chance vertan“, so Beucher. Derartige Überlegungen dürften vor allem an der Situation der Leichtathletik scheitern: Sie will und muss sich aufhübschen, straffen, kürzen, um zu überleben. Ein potenziell verdoppeltes Programm wäre kaum umsetzbar.
In kleinerem Rahmen wachsen aber derzeit die Chancen. Gerd Janetzky, Präsident des Berliner Leichtathletik-Verbandes, verkündete Ende der Woche, berauscht vom Zuschauererfolg der EM, er wolle sich bemühen, künftig die Staffel-WM und die Diamond League nach Berlin zu holen. Und zur Staffel-WM sagte Janetzky: „Man kann hier auch neue Wege gehen mit unterschiedlichen Mixed-Staffeln, man könnte hier auch Rollstuhlfahrer integrieren.“ Es wäre ein großer Schub Aufmerksamkeit.
„Ich habe mich früher nie getraut, mit der Behinderung in die Öffentlichkeit zu gehen“, erzählte der Berliner Sprinter Ali Lacin kürzlich dem RBB. Die Paralympics 2012 im Fernsehen hätten alles geändert. „Das hat mich unheimlich motiviert.“ Die mediale Berichterstattung vor der Para-EM ist auf niedrigem Level präsent, allerdings noch wenig auf Sport fokussiert. Es geht eher um Geschichten und Gefühle, mit dem Tenor: Toll, dass sie das machen, gegen all die Widerstände. Es wird noch Zeit brauchen, den Sport sportlich zu betrachten, ohne gleich die Geschichte von jedermanns Behinderung aufzulisten.
Und eine auffällige Angewohnheit hat der Para-Sport vom Sport der Nicht-Behinderten übernommen. Die Stars und viel zitierten Namen in Deutschland, von Niko Kappel über Heinrich Popow und Alhassane Baldé bis Markus Rehm, sind fast alle Männer. Obwohl neben den 26 Männern auch 15 Frauen im deutschen Team vertreten sind.
Es gibt Fortschritt und es gibt Baustellen, auch im ganz wörtlichen Sinne. Der Jahnsportpark ist für die Para-EM extra mit barrierefreien Plätzen und Sanitäranlagen ausgestattet worden.
Teil der eigentlichen Sanierung ist das jedoch noch nicht: Ab 2020/21 soll der arg mitgenommene Jahnsportpark zu einer fast völlig barrierefreien Multifunktionsarena mit 30.000 Plätzen umgebaut werden. 110 Millionen Euro hat der Berliner Senat dafür bewilligt; insgesamt 170 Millionen sollen es für die gesamte Anlage mit Infrastruktur und Verwaltungsgebäuden werden.
Und ganz offensichtlich schielt mancher im Berliner Senat mit der aktuellen Veranstaltung doch wieder auf die umstrittenen Großereignisse. Aleksander Dzembritzki, Staatssekretär für Sport des Landes Berlin, sagte laut Berliner Morgenpost: Wenn die Hauptstadt einen erneuten Versuch für eine Olympia-Bewerbung starten wolle, könne Berlin mit der Para-EM zeigen, was die Stadt leisten kann.
20 Aug 2018
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