taz.de -- Biologieprofessor über urbane Evolution: „Manche Spezies können mithalten“

Immer mehr Menschen leben in der Stadt und schaffen dort neue Biotope. Menno Schilthuizen untersucht, wie Pflanzen und Tiere sich daran anpassen.
Bild: Professor Menno Schilthuizen schaut sich eins seiner Forschungsobjekte durch die Lupe an

taz: Herr Schilthuizen, mit welchen besonderen Bedingungen müssen Tiere und Pflanzen in der Stadt zurechtkommen?

Menno Schilthuizen: Städte sind heißer, es gibt mehr steinige Oberfläche, weniger Erdboden. Dazu kommen das viele künstliche Licht und chemische Schadstoffe wie Schwermetalle. Das alles findet man so nicht in einer natürlichen Umgebung. Außerdem bringen Städte Spezies aus der ganzen Welt zusammen. Zum Beispiel indem Menschen exotische Bäume und Blumen in ihren Gärten pflanzen oder unabsichtlich auf Containerschiffen neue Spezies mitnehmen. Auf einmal entwickeln sich dann Arten gemeinsam, die vorher nichts miteinander zu tun hatten.

Was macht Lebewesen wie Tauben zu erfolgreichen Stadtbewohnern?

Sie bringen schon eine gewisse Präadaption an die Stadt mit. Die Vorfahren der Stadttaube haben beispielsweise schon in felsigen Umgebungen gelebt, die unseren Steinhäusern ähneln. Arten, die wir in unseren Häusern und Kellern finden, sind oft mit Höhlenbewohnern verwandt. Auf diese Weise können diese Tiere und Pflanzen die Städte erfolgreich besiedeln – und dann urbane Evolution machen.

Was ist urbane Evolution?

Erst mal ist das ein ganz normaler evolutionärer Wandel. Das heißt, die Häufigkeit bestimmter genetischer Merkmale in einer Spezies verändert sich. Bei der urbanen Evolution ist das jedoch das Ergebnis der Anpassung an die Stadt. So wie das Verhältnis von leichten und schweren Samen der Crepis sancta, die verwandt mit dem Löwenzahn ist. Die schweren Samen der Blume fallen nahe der Pflanze zu Boden und können im selben Flecken Erde auskeimen. Die leichten treiben dagegen mit dem Wind davon. In der Stadt landen sie dabei viel seltener auf geeignetem Boden. Also produzieren nur die schweren Samen Nachkommen und die leichten Samen verschwinden mit der Zeit aus den Städten.

Darwin dachte, Evolution sei ein sehr langsamer Prozess. Hatten die Pflanzen und Tiere überhaupt schon genug Zeit, um sich an unsere Städte anzupassen?

Wir wissen schon eine Weile, dass Evolution schnell gehen kann – besonders bei Spezies, die in einer kurzen Zeit viele Generationen haben. Es stimmt aber, dass die Erkenntnis, dass diese schnelle Evolution von Menschen verursacht werden kann, eher neu ist.

Wie können Sie sicher sein, dass Sie tatsächlich Evolution beobachten? Wenn eine bestimmte Vogelart sich in der Stadt kühner verhält als ihre Verwandten vom Land, kann sie das doch auch gelernt haben.

Eine Möglichkeit, um das zu testen, sind sogenannte Common-Garden-Experimente. Dabei nimmt man ganz junge Organismen oder Samen aus einer städtischen und einer ländlichen Umgebung und lässt sie unter den gleichen Bedingungen im Labor aufwachsen. Wenn es zwischen den Individuen Unterschiede gibt, dann weiß man, dass sie erblich sind. Allerdings kann auch das An- und Ausschalten von Genen vererbt werden. Um also sicherzugehen, dass es wirklich Veränderungen in der DNA sind, muss man sie sequenzieren. Viele Studien, die ich in meinem Buch erwähne, haben zwar gezeigt, dass eine Veränderung vererbt wurde, aber nicht, ob es sich dabei um echte Unterschiede in der DNA handelt.

Pflanzen, die mehr schwere Samen haben. Schwalben, deren Flügel kürzer sind, damit sie schneller vom Asphalt abheben können – sind das Einzelfälle oder ist urbane Evolution weitverbreitet?

Ich denke, wir werden immer mehr Fälle sehen. Das Forschungsgebiet ist noch relativ jung, aber es wächst sehr schnell. Da der Selektionsdruck in der Stadt so allgemein ist, werden wir wahrscheinlich in jeder städtischen Spezies eine Form von urbaner Evolution finden.

Wo gibt es aktuell noch den größten Forschungsbedarf?

Wir fokussieren uns bisher noch darauf, zu untersuchen, wie sich Arten an die Physik und Chemie der Stadt anpassen. Von der Koevolution der Spezies verstehen wir bisher noch nicht so viel: Was passiert, wenn zwei Arten mit ganz unterschiedlicher Herkunft plötzlich in der Stadt aufeinandertreffen? In der französischen Stadt Albi haben die Menschen Tauben und Europäische Welse an einem Ort zusammengebracht. Normalerweise fressen die Welse andere Fische. Doch in Albi schmeißen sie sich ans Ufer, um dort Tauben zu fangen. Das könnte dazu führen, dass sich beide Spezies weiterentwickeln und sogar eine Art Wettrüsten entsteht: Auf jede Veränderung der einen Spezies reagiert die andere mit einer weiteren.

Der Mensch verändert den Planeten wie keine andere Spezies zuvor. Beruhigt Sie das Wissen, dass die Natur vielleicht doch mit uns mithalten kann?

Manche Spezies können mithalten – die meisten aber nicht. Wir können uns ganz sicher nicht darauf verlassen, dass die urbane Evolution alle Spezies rettet, die von unseren Handlungen betroffen sind. Um uns herum wird sich ein sehr armes, sehr spezialisiertes und sehr interessantes Ökosystem entwickeln.

Wie werden diese städtischen Ökosysteme der Zukunft aussehen?

Über die Zeit – und dabei spreche ich natürlich von Tausenden Jahren – wird ein globales städtisches Ökosystem entstehen. Städte in der gleichen Klimazone werden sich immer ähnlicher. Gleichzeitig werden die Unterschiede zu den nichturbanen Lebensräumen immer größer.

Warum ist das so?

Das liegt an dem sogenannten Telecoupling: Nicht nur Pflanzen und Tiere werden von einer Stadt zur nächsten transportiert, auch die Technologien oder der Städtebau gleichen sich an. Eine Neuerung, wie zum Beispiel LED-Lampen, verbreitet sich über die ganze Welt. Tiere und Pflanzen finden in den jeweiligen Städten also sehr ähnliche Bedingungen vor, an die sie sich anpassen müssen.

Können wir Menschen diese Anpassung unterstützen?

Wir müssen uns bewusst sein, dass wir ein Teil des städtischen Ökosystems sind und die urbane Evolution beeinflussen. Die meisten Spezies brauchen irgendeine Art von Vegetation. Wie wir also die grünen Flächen in unseren Städten organisieren, hat einen großen Einfluss darauf, wie sich ein Ökosystem und die Tiere und Pflanzen darin entwickeln. Wir müssen den Spezies, die gerade urbane Evolution machen, dafür den Platz und den Boden geben. Das können wir zum Beispiel tun, indem wir grüne Dächer und Wände nicht gleich bepflanzen, sondern sie natürlich wachsen lassen.

2 Jun 2018

AUTOREN

Anna Schughart

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