taz.de -- Die Wahrheit: Hardcore in der Kathedrale
Rituale haben etwas, besonders die christlichen. Gerade für einen Forschergeist, der drei Stunden in einer nächtlichen Kirche seine Studien betreibt.
Kruzifix-Produzenten und Vampirjäger werden frohlockt haben, als die bayerische Staatskanzlei neulich verkündete, von Juni an würden in allen Behörden Kreuze hängen. Nicht etwa als christliches Symbol, sondern „als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“, als „sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland“. Na, es ist dringend nötig!
Denn zum Beispiel soll eine Umfrage der Frauenzeitschrift Bella Mitte 2007 bereits ergeben haben, dass 73 Prozent der Deutschen keine Ahnung haben, was an Pfingsten gefeiert wird. Drei Jahre später hieß es laut einer repräsentativen Emnid-Umfrage, „jeder zweite Deutsche“ wisse nicht, was mit den Pfingsttagen begangen wird. Welche Zahl nun in etwa stimmt, sei dahin gestellt. Dass aber etwa 35 Prozent der Menschen in Deutschland konfessionslos sind, dürfte ungefähr hinkommen. Und denen erzähle ich jetzt nichts über das rätselhafte Pfingsten, sondern von meiner ethnologischen Studie zu Ostern.
Ich hielt mich in Freiburg auf. Die Kathedrale, dort Münster genannt, hat „den schönsten Turm der Christenheit“. Dieses Label entstammt einem Satz des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, der 1869 den in Freiburg mit denen in Basel und Straßburg verglich und meinte, „Freiburg wird wohl der schönste Turm auf Erden bleiben“.
Am Ostersonnabend sprang meinen Forschergeist die Idee an, mir dort die bedeutendste Nacht der Christenheit zu Gemüte zu führen. Ich saß zuvor auf ein Weizen im Café Atlantik, deshalb traf ich erst gegen halb neun ein. Die Katholiken hatten um acht begonnen, die Osterkerze am Feuer entzündet und beweihräuchert. Das riesige Gotteshaus war umfangreich bevölkert. Ich lehnte mich im linken Seitenschiff ans Gemäuer, sah nichts vom Altar. Die nächsten mehr als drei Stunden würde ich bewältigen. Und so war es. Hardcore bis zum Feierabend, Mitternacht.
Klar, diese Zeilen hier sind nicht die offizielle Studie, nicht mal eine Skizze. Die offizielle Studie wird weitaus länger sein, jedes Detail wird minutiös geprüft werden, um sicherzustellen, dass wirklich nur die ungeschminkte Wahrheit gedruckt wird.
Den letzten Absatz habe ich fast wörtlich dem wundervollen Roman „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ entnommen. Dieses Buch spukte zwischen Millionen Gedankensprüngen herum, weil das Team mich an den SC Freiburg erinnerte, der vor 25 Jahren in die Bundesliga aufstieg.
Übrigens: Zu meinem Favoriten unter den zahllosen Ritualen zählt die endlose Allerheiligenlitanei. Ein Muss! Ein Muss? Am nächsten Tag hörte ich im Hauptbahnhof eine ältere Bäckereiverkäuferin mit lila-grün gefärbtem Haupthaargestrüpp sagen, als eine Kollegin ihr Anweisungen erteilte: „Das einzige, was ich muss, ist eines Tages sterben.“
2 May 2018
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