taz.de -- Kolumne Geht’s noch?: Vorsicht, begründetes Interesse!

Die Berichterstattung über ein Tötungsdelikt in der Pfalz zeigt: In Sachen Herkunftsnennung bei Straftätern ist abzuwägen ob … Ach, egal!
Bild: Der Tatort war ein Supermarkt, der kurzzeitig geschlossen blieb

Was wollen die meisten Menschen wissen? Warum ein 15-Jähriger in der Südpfalz eine 15-Jährige erstochen hat.

Was wollen Rechte wissen: Wo der 15-Jährige herkommt.

Und was titelte die Nachrichtenagentur dpa am Mittwoch, nachdem sich dieses im rheinland-pfälzischen Kandel ereignet hatte? „15-Jähriger Afghane ersticht Mädchen im Supermarkt“.

Die rechte Filterblase feiert seitdem zweite Weihnachten. [1][Epoch Times], [2][Junge Freiheit] und [3][AfD-Chef Meuthen] beeilten sich, das Vaterland zu betrauern. Und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal klar war: Was war das Motiv? Ist der mutmaßliche Täter Asylbewerber? Und ist das für den Fall relevant?

Die Polizei sagte nämlich erst am Donnerstagnachmittag, dass es sich tatsächlich um einen Flüchtling geht – aber auch, dass die Tat wohl vor allem eine Beziehungstat war. Der Titel der dpa-Meldung suggeriert etwas anderes.

Seit etwa zwei Jahren wird debattiert, ob man die Herkunft von Straftätern in Meldungen nennen soll, wenn das nichts mit der Geschichte zu tun hat. Früher galt: Nein. Dann aber kamen „Staatspresse“-RuferInnen auf Facebook zu Ruhm und der Pressekodex wurde geändert. In Paragraf 12.1 ist nun nicht mehr ein „begründeter Sachbezug“ Voraussetzung, sondern ein „begründetes öffentliches Interesse“.

Für die dpa besteht dieses begründete Interesse nach eigener Aussage immer dann, wenn es sich um eine „besonders schwere Straftat handelte, die zudem in der Öffentlichkeit begangen wurde“, so dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger auf taz-Anfrage. Heißt, Nationalität und/oder Herkunft sind immer relevant, wenn es blutig wird – Sachbezug ade.

Damit weitet die dpa eine Regel, die zum Schutz vor Diskriminierung gedacht ist, so weit aus, dass sie dem Sensationalismus genügt. Immerhin, den reißerischen Titel sieht man kritisch: Die Nationalität auf diese Weise zu betonen sei nicht richtig gewesen, deshalb habe man das in einem späteren Text geändert.

Der SWR sowie [4][Süddeutsche] und Stern, die die Meldung fürs Panorama übernahmen, erwähnten die Nationalität dann auch weder im Titel noch im Einstieg. RTL und [5][Bild ] waren da weniger zimperlich. Warum auch? Hat man sich ja längst dran gewöhnt, dass Nationalität – vielmehr: Hautfarbe – das erste ist, was vielen bei Kriminalität einfällt. Dann ist das eben ein öffentliches Interesse. Und damit selbstverständlich begründet.

28 Dec 2017

LINKS

[1] https://www.facebook.com/EpochTimes.Deutsch/posts/1582622695136738
[2] https://www.facebook.com/jungefreiheit/posts/10156993566129942
[3] https://www.facebook.com/alternativefuerde/posts/1728895423807456
[4] http://www.sueddeutsche.de/panorama/rheinland-pfalz-jaehriger-ersticht-gleichaltriges-maedchen-in-drogeriemarkt-1.3806961
[5] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=newssearch&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjwr42z76zYAhXDb1AKHUVMABsQqQIIJygAMAA&url=http%3A%2F%2Fwww.bild.de%2Fregional%2Ffrankfurt%2Ffrankfurt-am-main%2Fmarkt-nach-messer-attacke-wieder-geoeffnet-54315942.bild.html&usg=AOvVaw05A-KbpZ9tDWM00eXt4mH5

AUTOREN

Peter Weissenburger

TAGS

Medienethik
Schwerpunkt Rassismus
Pressekodex
dpa
Journalismus
Herkunft
Pressekodex
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Rassismus
Flüchtlinge
Alice Weidel
Presserat
Sächsische Zeitung
Pressekodex

ARTIKEL ZUM THEMA

Berichterstattung über Migrant:innen: Ist er „Risiko“ oder „Chance“?

In der Berichterstattung über „Migrant:innen“ betonen Medien heute seltener die „Risiken“. Das legt eine neue Studie nahe – mit Einschränkung.

Herkunftsnennung bei Straftaten: Die Gefahr der Obsession

In den letzten fünf Jahren nennen Nachrichtenbeiträge immer häufiger die Herkunft von Tatverdächtigen. Das ergibt eine neue Studie.

Petition der Woche: Zurück zum alten Pressekodex

Der Presserat hat eine Richtlinie zur Benennung der Herkunft von Tätern geändert. Eine Initiative will zur alten Regelung zurück.

Studie zu Kriminalität und Zuwanderung: Was misst die Kriminalstatistik?

In Niedersachsen soll die Zahl der Straftaten durch Flüchtlinge stark gestiegen sein. Doch die Aussagekraft der Zahlen ist zweifelhaft.

Berichterstattung zum Totschlag in Kandel: Null Relevanz von Einzelfällen

Nach Kandel wird Medien Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen vorgeworfen. Aber das Betrauern Einzelner ist nicht Aufgabe der Presse.

Psychiater über minderjährige Flüchtlinge: „Es fehlt die richtige Behandlung“

Basel Allzoy betreut minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Er weist darauf hin, dass Betreuung durch Pädagogen und Pflegefamilien fehlt.

Tödliche Messerstiche in Kandel: AfD befeuert hysterische Debatte

Den Tod einer 15-Jährigen schlachtet die AfD brutal aus, lange bevor Einzelheiten klar sind. Dem umkämpften Familiennachzug fehlt dabei jede Lobby.

Kommentar Neuerung des Pressekodex': Eine Information, die nicht weiterhilft

Das Wissen um die Herkunft Tatverdächtiger ist überflüssig. Sie nährt nur Vorverurteilungen, die besonders häufig People of Colour treffen.

Herkunftsnennung bei Straftaten: Er ist „ein Syrer“

Die „Sächsische Zeitung“ nennt seit Juli immer die Nationalität von StraftäterInnen. Damit verstößt sie gegen den Pressekodex – ganz bewusst.

Debatte um Pressekodex: Eine Frage der Ethik

Der Presserat diskutiert die Berichte über die Gewalt zu Silvester in Köln. Es geht darum, ob Medien die Nationalität von Tätern nennen sollen.