taz.de -- Die Wahrheit: Dem Tod beim Ei entgegensehen

Die älteren Generationen gelten als leseaffin. Doch gerade bei Zugfahrten stellt sich heraus: Die Senioren wollen ums Verrecken nicht lesen!

„Hallo! Solltest du nicht speichern?“ Ach, halt die Fresse, Clippy, doofe Office-Büroklammer. Geh, wo dein Haus wohnt. Geh zu den anderen Dingen aus der Vergangenheit, die mich alt aussehen lassen, zur Telefonzelle, zum Monchichi und zu „Wetten, dass ..?“.

So alt bin ich außerdem nicht. Andere sind älter, das erkennt man daran, dass sie in Arzt-Wartezimmern oder in Zügen sitzen, ohne zu lesen oder in ihr Handy zu gucken. Bei den Wartezimmern kann ich eine gewisse Zurückhaltung noch verstehen: Vielleicht möchte man die in Kolibakterien und Chlamydien getränkten ADAC Motorwelten und Galas der letzten drei Jahre im momentanen Zustand nicht anfassen. Das Immunsystem macht schließlich nicht mehr alles mit.

Im Zug verwundert mich die Lesefeindlichkeit der Älteren jedoch immer wieder: Sind die nicht die „Generation Papier“? Die „Ära Tageszeitung“? Der „Jahrgang Buch“? Und dennoch sitzen sie im Abteil vis-à-vis und schauen einfach nur. Als ob sie nicht wüssten, dass sie die nächsten fünf Stunden im Zug nach München verbringen müssen und zumindest die ersten dreieinhalb davon landschaftlich aber auch rein gar nix zu bieten haben.

Für das leibliche Wohl sorgen die Alten vor, dafür war anscheinend Zeit, als der braune Lederkoffer vor der Reise mit Pantoffeln, Rasierpinsel und Nachtmütze vollgestopft wurde: Alle Nase wird ein hartgekochtes Ei, Salz und selbstgemachter Fleischsalat hervorgeholt und die Tupperbox danach jovial zum Reisepartner geschoben. Aber lesen wollen sie nicht. Partout nicht. „Altersweitsicht“, vermutete neulich ein Freund pauschal, doch das bezweifle ich: Wenn diese Alten in „Lutherstadt Wittenberge“ zusteigen, erspähen sie sehr wohl, ob man auf ihrem reservierten Sitz sitzt. Manchmal blättert der eine oder die andere sogar hastig und genervt das Bahnmagazin durch.

Ins Handy zu gucken, das mag ihnen zu bescheuert aussehen, sieht ja auch wirklich bescheuert aus, der Kopf in genau jenem Winkel geknickt, der das Doppelkinn vorschiebt, das Display so klein, dass die Fraktur kaum raufpasst. Aber: Wieso nehmen sie sich keine Erstausgaben von Klassikern mit? Oder die Eisenbahnwelt? „Mein schöner Garten“? „Mein Kampf“? (In der überarbeiteten Ausgabe?) Wo schauen sie hin, wenn sie nicht ins Buch, nicht in den Laptop, nicht ins Handy schauen? Schlichtweg dem Tod entgegen?

Letzte Woche auf dem Weg nach Hannover saß mir ein rüstiger Herr gegenüber, die Galoschen frech unter den Sitz geklemmt, den Trilby elegant auf die Kofferablage gefeuert, und guckte ins Nichts. Plötzlich kam Leben in ihn: Er holte ein Buch aus dem Leder-Weekender, ein Hardcover.

Gerührt beobachtete ich ihn. Endlich ein Bücherwurm, dachte ich, oder gar ein Bibliothekar, der die Zeit nutzt, um mal wieder im Voltaire zu schmökern. Ich verrenkte meinen Kopf, um den Titel zu spicken. Das Buch hieß „Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff!“. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich von Voltaire war.

15 Sep 2017

AUTOREN

Jenni Zylka

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