taz.de -- Referendum in der Türkei: „Evet“ auf Plätzen, „hayir“ im Netz

Die Kampagne gegen Erdoğans Verfassungsänderungen hat gegen Repression zu kämpfen. In der nationalistischen MHP gibt es Abweichler.
Bild: Wahlkampf in Istanbul

Istanbul taz | Der zentrale Platz im Istanbuler Stadtteil Üsküdar sieht derzeit aus wie ein Jahrmarkt der Parteien und politischen Initiativen. Überall stehen Infozelte, kreuz und quer über die Straßen sind Wimpel und Transparente gespannt und aus Hunderten Lautsprechern dröhnen Lieder und politische Statements. Aktivisten verteilen Flugblätter, und auf den ersten Blick scheint es, als fände hier ein fairer und pluralistischer Wahlkampf statt.

Erst auf den zweiten Blick erkennt man die Übermacht der Regierungspartei AKP und ihrer Ja-Kampagne für das neue Präsidialsystem. Wo andere ein winziges Zeltchen aufgebaut haben, protzt die AKP mit einem Wahlkampftruck, auf dessen Dach ein großer Bildschirm ununterbrochen Werbefilme für Recep Tayyip Erdoğan präsentiert.

Auf einen Aktivisten, der für das Nein Flugblätter verteilt, kommen mindestens fünf, die Ja-Zettel mit dem Konterfei Erdoğans verteilen. Doch immerhin, im Stadtbild der Metropolen Istanbul, Ankara, Izmir und Bursa sind Nein-Transparente präsent, die statt Erdoğan das Foto eines lächelnden Mädchens zeigen.

In der anatolischen Provinz sieht es da ganz anders aus. In vielen Städten, berichtete unlängst die Zeitung Cumhuriyet, werden Aktivitäten für die Nein-Kampagne vom Gouverneur aktiv verhindert. Demonstrationen werden verboten, Plakate wieder abgerissen.

Dabei hängt der Grad der Repression davon ab, welche Partei oder politische Gruppierung Kundgebungen veranstalten will. Während der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu einigermaßen ungehindert reden kann, sitzen die Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, seit Monaten im Gefängnis.

Wenn der Strom ausfällt

Ganz schwer haben es die Abweichler innerhalb der ultranationalistischen MHP, mit deren Unterstützung Erdoğan fest gerechnet hatte. Viele MHP-Mitglieder wollen dem Kurs des alten Parteichefs Devlet Bahçelinicht folgen und organisieren deshalb eine eigene Nein-Kampagne.

Das bekannteste Gesicht ist Meral Akşener, eine Politikerin, die in den 90er Jahren unter Tansu Çiller schon einmal Innenministerin war und und Bahçeli gerne als Parteichefin ablösen würde. Wenn sie auftreten will, passiert es schon einmal, dass der Saal kurzfristig gesperrt wird oder der Strom ausfällt. Immer wieder werden ihre Veranstaltungen von Bahçeli-treuen Grauen Wölfen gestört und auch gewalttätig angegriffen.

Trotzdem wird sie unter MHP-Wählern immer populärer. Nach letzten Umfragen wollen mehr als die Hälfte von ihnen mit Nein stimmen, was eine Katastrophe für Erdoğan wäre.

Der wichtigste Teil der Nein-Kampagne findet aber in den sozialen Medien statt. Da die insgesamt 17 landesweiten Fernsehanstalten fast ausschließlich die Auftritte von Erdoğan und Ministerpräsident Binali Yıldırım zeigen, habe sich unzählige Nein-Aktivisten auf Facebook, YouTube und Twitter verlegt. Immer wieder werden witzige Nein-Spots gepostet.

Am häufigsten sind Bilder, auf denen Menschen sich so postieren, dass das Wort „Hayir“, also Nein, abgebildet wird. Weil diese Spots so erfolgreich sind, haben sich jetzt erstmals Erdoğan-Fans an einer Replik versucht. Sie drapierten sich in einer Moschee so auf den Teppich, das das Wort „Evet“ für Ja nachgebildet wird – was innerhalb der Moschee ziemlich befremdlich wirkt.

6 Apr 2017

AUTOREN

Jürgen Gottschlich

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