taz.de -- Kolumne Damals bei uns daheim: Ausgelassenheit ist Epilepsie

Der Umgang mit Katholiken war strengstens verboten. Die liebten Tand und Glitter und verstanden nichts von der Reinheit der Protestanten.
Bild: Katholiken folgen einer Fummeltrine und gehen die an die „früsche Luft“

Der Anblick war beängstigend: gewaltige Gestalten mit groben Gesichtszügen und in schwarzen Ganzkörpersuits aus Pelz. Ruhig saßen sie auf dem Boden und aßen rohes Gemüse. Es stank. „Was sind das für Leute?“, fragte ich. Stiefmutter antwortete flüsternd. „Das sind Katholiken. Geh nicht zu nah ran – die werfen mit Kot!“

Aha. Was Katholiken waren, wusste ich schon, hatte sie nur anders in Erinnerung. Als gegenüber eine katholische Familie einzog, verbot mir Stiefmutter, mit den Kindern, Maria und Joseph, zu spielen. Der Umgang mit Scheidungskindern, Sozi-Sprösslingen und Linkshändern war ohnehin untersagt. Und meine Stiefschwester Marionette hat seit dem Blickkontakt mit einem Gastarbeiterkind bis heute verschärften Hausarrest. Über vierzig Jahre bei Wasser und Schiffszwieback in einer Tag und Nacht grell ausgeleuchteten Besenkammer sind kein Zuckerschlecken. Sie dürfte ihre Lektion gelernt haben.

Stiefmutter brachte mir bei, was ich wissen musste: Katholiken waren faul, trunksüchtig, falsch bis ins Mark und wie alle Wilden geradezu vernarrt in Tand und Glitter. Nicht umsonst war ihr Führer eine Fummeltrine, der sie blind folgten. Dieser „Papst“ trug ein bis zu den Knöcheln reichendes Kleid. In Deutschland hätte man ihn dafür verhaftet, deshalb wohnte er in Italien, wo man bekanntlich eh mit allem durchkam – Hauptsache, die Sonne schien.

Auch von Kannibalismus wurde bei uns daheim gemunkelt, speziell zur Zeit des sogenannten Karnevals, einem abscheulichen Ringelpiez, der den Götzen der Liederlichkeit gewidmet ist. Für normale Menschen wurden gewisse Städte über Wochen hinweg zu No-Go-Areas, durch die marodierende Horden von „Jecken“ (Verrückten) und „Funkenmariechen“ (Flittchen) zogen und auf freier Straße kopulierten wie die Hunde. Und nirgends war Polizei.

Aber wir waren ja zum Glück evangelisch. Stiefvater erklärte, was das bedeutete: dass wir in aller Reinheit nur an den lieben Gott glaubten, den Blick im kahlen Tempel unverstellt von affigem Blendwerk, und nicht obendrein noch an den heiligen Bimbam, die sieben Zwerge und tausend weitere, Heilige genannte, Dämonen aus der quietschbunten Vorhölle, die Petrus und Konsorten in den wirren Köpfen ihrer Follower errichtet hatten.

Wir Protestanten mussten nicht beichten, wir sündigten ja nicht. Die Lüge war uns so fremd wie das Laster. Vergnügen bedeutete für uns, ein Hundepuzzle zu legen; Ausgelassenheit war ein Synonym für Epilepsie. Unsere Gedanken waren klar, weil wir uns ständig an der „früschen Luft“ aufhielten.

Doch die Familie mit den schwarzen Fellanzügen waren gar keine Katholiken – so viel weiß ich heute. Die Kleinen warfen tatsächlich mit Exkrementen, doch zum Glück befand sich zwischen uns eine Plexiglasscheibe. Sie waren Zwillinge, geboren im Zoo Hannover, konnte man einem Schild entnehmen. Nur dieses eine Mal hatte sich Stiefmutter wohl getäuscht.

28 Nov 2016

AUTOREN

Uli Hannemann

TAGS

Katholische Kirche
Karneval
Katholizismus
Protestantismus
Damals bei uns daheim
Prekäre Arbeit
Mallorca
Religion
Telefon
Familie
Kalter Krieg
Kindergarten

ARTIKEL ZUM THEMA

taz-Serie „Damals bei uns daheim“: Die stille Zeit

Weihnachten war in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten Weltkriegs – mit den Waffen der schwarzen Pädagogik.

Soziologe Hans-Albert Wulf zum Nichtstun: „Wer faul ist, muss bestraft werden“

Müßiggänger gesellschaftlich zu ächten, hat eine lange Tradition. Der Mensch soll Abscheu vor staatlicher Hilfe entwickeln. Heute mehr denn je.

Air Berlin verlässt Mallorca: Malle mía!

Ab 2017 fliegt das Unternehmen nicht mehr auf die Insel. Das wird die Bundesrepublik verändern – profitieren gar die vergangenheitsverliebten Populisten?

Kommentar Religionsfreiheit in Bayern: Let’s dance!

Das Tanzverbot am Karfreitag ist passé. Es geht um die Privilegien einer Religion, der selbst in Bayern die Anhänger schwinden.

Kolumne Damals bei uns daheim: „Ich bin durch“

Telefonieren war früher Schwerstarbeit. Hatte man wen erreicht, mussten alle was in den Hörer sagen. Nicht eine Sekunde durfte verlorengehen.

taz-Serie Damals bei uns daheim: Das Fest

Wenn die gesamte Stief-Verwandtschaft zusammenkam, gab es Himbeerschnaps aus der Flasche und Sterbemusik aus dem Radio. Denn es wurde gefeiert.

taz-Serie Damals bei uns daheim: Lauwarmer Kriech

Die Stief-Oma erzählte gern vom Krieg – beziehungsweise „Kriech“. Auch wenn unser Kolumnist gar nicht wusste, was das eigentlich sein soll.

taz-Serie Damals bei uns daheim – Teil 17: Im Stiefkindergarten

Jeden Morgen zwei Stunden zu Fuß. Im Sommer durch Wüste, im Herbst durch Schlamm und im Winter durch metertiefen Schnee.