taz.de -- Ernüchternde Pisa-Studie: Deutschland bleibt unfair

Deutsche Schüler und Schülerinnen haben sich kaum verschlechtert. Doch immer noch ist mangelnde Chancengerechtigkeit ein Problem.
Bild: Erfolgreiches Lernen fängt leider immer noch zuhause an

Berlin taz | Keine „Nikolausrute“, aber auch kein rechter Grund zur Freude. So bezeichnete der Berliner OECD-Leiter Heino von Meyer die Leistungen deutscher Jugendlicher bei der aktuellen Pisa-Studie, deren Ergebnisse am Dienstag – zum Nikolaustag – in Berlin vorgestellt wurden.

Demnach befinden sich deutsche SchülerInnen in allen drei geprüften Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. So erzielten die geprüften 15-Jährigen beim diesjährigen Schwerpunkt Naturwissenschaften im Schnitt 509 Punkte (OECD: 493), bei der Lesekompetenz 509 Punkte (OECD: 493) sowie 506 Punkte bei Mathematikaufgaben (OECD: 490). Damit liegt Deutschland im Leistungsumfeld von Ländern wie Korea, Slowenien, Niederlande und Schweiz. Ganz vorne sind Singapur, Japan und Estland, als bestes europäisches Land.

„Deutschland hat das Jammertal des Pisa-Schocks von 2000 verlassen und bewegt sich auf einer Art Hochplateau im oberen Mittelfeld der OECD-Länder“, bilanzierte von Meyer. Von einer weiteren Aufstiegsdynamik sei aber nichts zu spüren. Positiver äußerte sich die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Claudia Bogedan (SPD). „Es gibt eine Stabilisierung auf hohem Niveau.“ Die Leistungen deutscher SchülerInnen hätten sich in den Pisa-Studien seit 2000 kontinuierlich verbessert – nur seit der fünften Erhebung 2012 sei mit Ausnahme der Lesekompetenz ein leichter Einbruch zu verbuchen. Andere Länder hätte das hohe Niveau nicht gehalten. Das sei, so Bogedan, eine „gute Nachricht“. Ziel müsse es aber sein, zur Spitzentruppe aufzuschließen.

Bei der Spitzentruppe um Pisa-Sieger Singapur ist neben der hohen Punktzahl auch der Anteil der Schüler mit Topniveau höher – und der der Leistungsschwachen geringer. Von Meyer von der OECD warnte deshalb, auch in diesem Feld den Anschluss an die Spitzenländer nicht zu verpassen: „17 Prozent der deutschen SchülerInnen und Schüler erreichen nicht mal das Grundkompetenzniveau.“ Und bei den SchülerInnen mit Topleistungen in den Naturwissenschaften (rund 11 Prozent) sei der Anteil der Mädchen (8,7 Prozent) im Vergleich zu den Jungs (12,4 Prozent) sehr gering.

Eltern haben bedenklich hohen Einfluss

Neben der Geschlechterungleichheit, so von Meyer, sei vor allem der nach wie vor hohe Einfluss des Elternhauses auf die Schülerleistung „bedenklich“. Zwar habe sich der Zusammenhang seit 2006 „deutlich abgeschwächt“, sagt von Meyer. Dennoch schnitten SchülerInnen aus einem bildungsfernen Elternhaus wesentlich schlechter ab als ihre MitschülerInnen. Beim aktuellen Pisa-Test erreichten sie im Schnitt 30 Punkte weniger. Das entspricht dem Wissensstand eines ganzen Schuljahrs. SchülerInnen mit Migrationshintergrund schnitten mit 46 Punkten weniger sogar noch schlechter ab.

Die mangelnde Chancengerechtigkeit kritisierten Bildungsexperten bereits nach der Ernüchterung nach der ersten Pisa-Studie vor 15 Jahren. Offenbar mit geringem Erfolg: Schon der nationale Bildungsbericht 2016 stellte fest, dass die Bildungschancen für Personen mit beziehungsweise ohne Migrationshintergrund weit auseinanderklaffen. Die aktuelle Pisa-Studie belegt diesen Befund. „Pisa 2015 muss für die Politik ein Ansporn für weitere Verbesserungen sein“, forderte von Meyer.

„Der Abstand ist noch zu groß“, räumte Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im Bildungsministerium, ein. Eine „Wissensnation wie Deutschland“ könne sich damit nicht zufrieden geben. Quennet-Thielen warnte aber vor überschnellen „Reformen“. Der Bund unterstütze lieber eine bessere Aus- und Fortbildung für Lehrkräfte. Wie etwa seit 2014 die Qualitätsoffensive Lehrerbildung oder die Digitalisierungsstrategie, die LehrerInnen mehr Medienkompetenz vorschreiben will.

Auch Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), stellte die Aussagekraft der Pisa-Studie infrage. Der Test bilde nur „einen minimalen Ausschnitt aus dem Bildungsgeschehen ab“. Reformen schadeten nur denen, die in der Schule hinterherhinken.

Auch die Pisa-Macher scheinen bei der Wahl des Datums an die SchülerInnen gedacht zu haben: Der heilige Nikolaus ist ihr Schutzpatron.

6 Dec 2016

AUTOREN

Ralf Pauli

TAGS

Schule
Bildung
Pisa-Studie
Frühkindliche Bildung
Entwicklungszusammenarbeit
Migration
Inklusion
Pisa-Studie
Pisa-Studie
Bildung
Studium
Erbschaftsteuer
DIW
Schule
Bildung
Deutschland

ARTIKEL ZUM THEMA

UN-Entwicklungsziel „Bildung für alle“: Gar kein Unterricht

264 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit sind im Jahr 2015 nicht zur Schule gegangen. Das zeigt der Weltbildungbericht der Unesco.

Studie zu Schülerkompetenzen: Jeder virte kan nich richtich schreiben

Das Niveau von Grundschülern ist gesunken – auch durch Zuwanderung und Inklusion. Das zeigt der Bildungstrend im Auftrag der Kultusminister.

Zulasten der Kinder: Raus aus unserer Inklusion

Bildungsbehörde und Assistenzgenossenschaft streiten um die Betreuung behinderter SchülerInnen. Nun droht die Senatorin Bogedan (SPD) offen

Neue Pisa-Studie zur Lernumgebung: Schüler werden häufig gemobbt

Nach einer neuen Pisa-Studie fühlt sich jeder sechste Schüler gehänselt, jeder zweite hat Angst vor schlechten Noten. Der Druck senkt Leistungen.

Kommentar PISA-Studie 2016: Lernresistent

In der deutschen Bildungslandschaft herrscht Bequemlichkeit statt Aufbruchstimmung. Und das, obwohl großer Nachholbedarf besteht.

Wankas Offensive für digitales Lernen: Schüler sollen nicht nur daddeln

Im Alleingang will Bildungsministerin Johanna Wanka eine Offensive für digitales Lernen an den Schulen starten. Das sorgt für Kritik.

Kommentar aufsteigende Studierende: Immer noch Familiensache

Kinder aus Nichtakademiker-Familien kann man zum Studieren ermutigen. Reformiert werden muss aber das ungerechte deutsche Schulsystem.

Reform der Erbschaftsteuer: Wo Zufall und Willkür regieren

Erben ist ungerecht. Das zeigt auch ein Blick in die Ideengeschichte. Schade nur, dass das die Große Koalition wenig interessiert.

Ökonom über soziale Ungleichheit: „Das hat mich schockiert“

Wir verspielen unsere Zukunft, warnt der Ökonom Marcel Fratzscher. Es sei dringend nötig, in Infrastruktur und Bildung zu investieren.

Migrantenkinder in Tower Hamlets: Arm, aber erfolgreich

In London zeigen Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittliche schulische Leistungen – besonders im ärmsten Viertel der Stadt.

Zehn Jahre nach dem Rütli-Schul-Aufruf: Radikal reformiert

Der Brief der Neuköllner Rütli-Schule machte Geschichte. Heute ist die ehemalige Hauptschule ein Vorzeigeprojekt. Doch wie sieht es an anderen Schulen aus?

Lebenserwartung von Deutschen: Früher sterben in Rheinland-Pfalz

Arme Menschen haben weniger Chancen auf ein langes Leben als wohlhabende, zeigt eine Studie. Und in Bayern lebt es sich länger als anderswo.