taz.de -- Bundestag streitet über Teilhabegesetz: Keine Hilfe für Blinde und Gehörlose?

Aktivisten rügen den Gesetzesplan. Zu selbstständige Behinderte könnten womöglich ohne Leistungen bleiben. Experten versuchen zu beruhigen.
Bild: Tausende Menschen mit Behinderung demonstrieren am 22.09.2016 in Hannover während einer Kundgebung zum Aktionstag „Für ihr Recht auf Teilhabe“

Berlin taz | Der Andrang zur Expertenanhörung am Montag im Sozialausschuss des Bundestages war so stark, dass viele Menschen draußen vor der Tür bleiben mussten. Drinnen ging es um das geplante neue Bundesteilhabegesetz. Und Behindertenverbände forderten erneut Nachbesserungen.

Der Gesetzentwurf bezieht sich auf die Gewährung von Eingliederungshilfe, Geld- und Sachleistungen, die es behinderten Menschen ermöglichen soll, in Arbeit und Freizeit am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die Behinderteninitiativen rügen unter anderem, dass nach dem vorliegenden Gesetzentwurf künftig nur jene Betroffenen Eingliederungshilfe bekommen sollen, die in mindestens fünf von neun definierten Lebensbereichen Unterstützung brauchen.

Gehörlose und Blinde könnten dann möglicherweise nicht mehr unter diese Definition fallen, sagte Horst Frehe vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen. Die Sorge besteht, dass beispielsweise sehr selbständige Blinde künftig keine Vorlesehilfe mehr bekommen.

Matthias Münning von BAGüs, dem Dachverband der Sozialhilfeträger, erklärte, diese wenigen Fälle seien durch Ermessensspielräume abgedeckt. Das Gesetz sieht zudem ausdrücklich vor, dass niemand eine Verschlechterung erleben soll.

Auch die Sorge, dass Behinderte künftig unter Umständen nicht mehr ohne Weiteres in Wohngruppen leben dürfen, sondern gezwungen werden könnten, in Pflegeeinrichtungen umzuziehen, weil die Eingliederungshilfe gegenüber der Pflege nachrangig sein soll, versuchten Sachverständige zu entkräften. Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag verwies auf eine spezielle Klausel im Gesetzentwurf: Danach müssen Vorgaben aus Kostengründen für die Betroffenen „zumutbar“ sein. Dies gilt auch für das „Poolen“, wenn sich mehrere Behinderte einen Assistenten teilen sollen.

Eine Koalitionsarbeitsgruppe sitzt derzeit noch an Nachbesserungen. Der Gesetzentwurf soll Anfang Dezember im Bundestag abgestimmt werden und 2017 in Kraft treten.

7 Nov 2016

AUTOREN

Barbara Dribbusch

TAGS

Bundesteilhabegesetz
Bundestag
Behinderte
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Teilhabegesetz
Teilhabegesetz
Leichte Sprache
Bundesteilhabegesetz
Teilhabegesetz
Bundesteilhabegesetz

ARTIKEL ZUM THEMA

Persönliche Assistenz: Alltag ermöglichen

Mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz könnten gerade in Berlin Menschen mit Behinderung einen Teil ihrer Selbstständigkeit verlieren.

Reform der Behindertenhilfe: Nachbesserungen am Teilhabegesetz

Kurz vor der Verabschiedung hat die große Koalition nochmal nachgebesert. Unter anderem wird der Zugang zur bisherigen Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt.

Dolmetscherin für Leichte Sprache: Humor funktioniert ganz anders

Kein Genitiv, kein Passiv und möglichst kurz: Anne Leichtfuß ist Simultan-Dolmetscherin für Leichte Sprache – die einzige in Deutschland.

Kommentar Teilhabegesetz: Zu hohe Erwartungen

Das Bundesteilhabegesetz enttäuscht viele Menschen. Entscheidend aber wird die Praxis sein – und vielleicht wird noch größerer Protest nötig.

Kabinett diskutiert Teilhabegesetz: Lieben, ohne mitzuhaften

Der Entwurf für das Bundesteilhabegesetz steht. Das Vermögen des Partners bleibt bei vielen Betroffenen ab dem Jahre 2020 anrechnungsfrei.

Debatte Teilhabegesetz: Spielräume für das Glück

Schwerstbehinderte brauchen die Hilfe anderer, um eigenständig zu sein. Diesem Paradox muss sich der Sozialstaat stellen.