taz.de -- Kommentar Teilhabegesetz: Zu hohe Erwartungen
Das Bundesteilhabegesetz enttäuscht viele Menschen. Entscheidend aber wird die Praxis sein – und vielleicht wird noch größerer Protest nötig.
Blinde schwimmen in einer Protestaktion in der Spree, Rollstuhlfahrer ketten sich an. Der Protest gegen das Bundesteilhabegesetz, das jetzt in erster Lesung im Bundestag beraten wurde, ist hochemotional. Denn hier geht es um Menschen, die in der größtmöglichen Abhängigkeit vom Staat leben: Sie sind in ihrer unmittelbaren physischen Existenz auf zupackende Hilfe angewiesen, auf bezahlteAssistenzen.
Der Staat entscheidet letztlich darüber, ob sie in der eigenen Wohnung leben können oder aus Kostengründen ins Heim geschickt werden, ob sie eine AssistentIn erhalten, die eine Arbeit ermöglicht oder ob sie zum Nichtstun und zur Isolation verurteilt sind. Menschen mit Behinderungen sind aufgrund dieser Abhängigkeit hochsensibel für mögliche Verschlechterungen, die sich einstellen könnten durch ein neues Gesetz.
Das Bundesteilhabegesetz ist kein Spargesetz, sondern mit Mehrkosten verbunden. Doch es bietet für mögliche Verschlechterungen mehrere Einfallstore: Aufgrund der neuen Definition von „Behinderung“ könnten zum Beispiel bestimmte Gruppen von Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen werden. Assistenzleistungen könnten „gepoolt“ werden, so dass sich Behinderte einen Helfer für bestimmte Aktivitäten mit anderen Gehandicapten teilen müssten.
Und viele Erwartungen hat das Gesetz nicht erfüllt: bei Menschen mit Behinderungen, die Hilfe zur Pflege bekommen und nicht erwerbstätig sind, wird Einkommen und Vermögen auch eines Partners wie bisher mit der Sozialleistung verrechnet, unter Gewährung bestimmter Freibeträge. Genau dies gilt aber auch für alte Ehepaare, wenn ein Partner ins Pflegeheim muss, und für Haushalte im Hartz-IV-Bezug.
Die Kriterien waren immer heikel
An diesem Beispiel zeigen sich die Probleme jeder Behindertenhilfe: Man kann den horizontalen Vergleich mit anderen Bedarfsgruppen nicht außer Acht lassen. Es stimmt natürlich, Menschen mit schweren Handicaps sind schicksalsbetroffener als andere, ihre Partner leisten meist schon sehr viel unbezahlte Arbeit in der Betreuung und hätten eine völlig Freistellung ersparter oder ererbter Vermögen verdient, quasi als Schicksalsausgleich. Aber die Kriterien dafür wären immer heikel.
Die Praxis in den Sozialbehörden wird zeigen, ob die Einfallstore im Gesetz für Verschlechterungen genutzt werden oder nicht. Ob Behinderte zum Beispiel weiterhin bei den Eltern ausziehen und eine Ausbildung machen können oder nicht. Das Gesetz verspricht mehr Teilhabe. Wenn das Rad in der Praxis aber zurückgedreht werden sollte, dann brauchen wir einen breiteren Protest.
23 Sep 2016
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