taz.de -- Streit um Demo-Teilnehmerzahlen: „Es waren aber viel mehr!“

Große Menschenmengen präzise zu schätzen ist schwer. Beim Spiel mit den Teilnehmerzahlen auf Demos gibt es deshalb viel Raum für Tricksereien.
Bild: 1, 2, 3 … 8 TeilnehmerInnen – so einfach zählt's sich nicht immer

BERLIN taz | Nichts ist so politisch wie die Zahl am Ende des Tages. Lange bevor am Samstag die erste Anti-Ceta-Demonstrantin auf der Straße war, stand fest: Die Zahl der DemonstrantInnen musste 250.000 überschreiten. Das war die Marke, die sich die Veranstalter selbst gesetzt hatten. Doch was, wenn die Zahl nicht zustande käme? Und wäre es vielleicht besser gewesen, schon beim letzten Mal nicht so zu übertreiben?

Dass im Oktober 2015 sicher 150.000 Menschen, aber gewiss nicht 250.000, wie damals behauptet, gegen TTIP auf die Straßen gingen, ist kein Geheimnis. Und so stellten sich die Organisatoren selbst eine Falle. Eine alte Falle: Beim Spiel mit den Teilnehmerzahlen auf Demos wird traditionell getrickst.

Gerade in aufgeladenen Konflikten gab es immer wieder Streit um die Zahlen. So ließ die Stuttgarter Polizei 2011 bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 Luftbilder anfertigen und diese von zehn Mitarbeitern auswerten. Sie kamen auf 13.000 Teilnehmer, die Aktivisten sprachen von 39.000, witterten Verrat.

Ein Aktivist ließ daraufhin einen Quadratmeter mit Tape abkleben, um zu beweisen, dass auch sechs Menschen dort Platz fänden. Bei Pegida- und Legida-Protesten in Dresden und Leipzig rückten 2015 eigens Wissenschaftler an, um zu beweisen, dass die Zahlen, die dort auch von der Polizei genannt wurden, regelmäßig übertrieben waren.

Am besten selber zählen

Dabei ist es nicht einfach, große Mengen präzise zu schätzen. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um zu zählen? Und wie? Dazu gibt es unterschiedliche Methoden wie die Analyse von Luftbildern oder die Rastermittlung (Quadratmeter mal Dichtequotient der Teilnehmer). Am verbreitetsten ist allerdings eine Mischung aus Zählung und Daumenpeilung, bei Veranstaltern gerne garniert mit einem Solidaritätszuschlag für sich selbst.

Demonstrationsveranstalter wie Campact argumentieren etwa damit, dass Zählungen im Laufe von Demonstrationen nicht alle Teilnehmenden erfassten. Manche Menschen kämen nur zum Auftakt, andere nur zur Abschlusskundgebung. Sie rechnen sich daher stets einen satten Bonus hinzu, landen je nach politischem Selbstbewusstsein auch mal bei der doppelten Zahl der Gezählten.

Journalisten, die nicht auf solche Angaben vertrauen wollen, müssen daher selbst zählen. Das kann bei 10.000 TeilnehmerInnen auch mal eine Stunde dauern. Die taz versucht in der Regel, eigene Zählungen anzustellen oder unabhängige Schätzungen vorzunehmen. So sprachen die Veranstalter der Anti-Ceta-Demonstration in Leipzig etwa von 15.000 Demonstranten, die taz zählte 9.850. In Berlin, wo für Samstag 100.000 Menschen angemeldet waren, sprachen die Veranstalter von 70.000 TeilnehmerInnen, auch die Polizei teilte diese Einschätzung. Die taz geht von weniger TeilnehmerInnen aus. In Hamburg schätzte die taz die Teilnehmerzahl auf über 40.000; Veranstalter sprachen von 65.000, die Polizei von 30.000.

Tatsächlich gibt es auch bundesweit kaum eine Stelle, die die Teilnehmerzahlen systematisch erfasst. Einzig der Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin kann auf ein Langzeitarchiv zurückgreifen. Allerdings hat auch seine Datenbank ein Problem: Sie beruht weitestgehend auf Demonstrierendenzahlen wie sie die taz im Laufe der letzten Jahrzehnte ermittelt hat. Das heißt: Immer dort, wo es die taz mit den Zahlen nicht so genau nahm, krankt auch diese Statistik. Bei den Anti-Ceta-Protesten vom Wochenende sprachen die Veranstalter von 320.000 TeilnehmerInnen. Die taz geht von rund 200.000 aus.

18 Sep 2016

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Martin Kaul

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