taz.de -- „Nein heißt nein“: Es ging nie um die Frauen

Die Reform des Sexualstrafrechts war unerlässlich. Doch die Party fällt aus – denn das Gesetz steht in kolonialistischer Tradition.
Bild: Warum musste es erst zu einem Vorfall massiver sexueller Belästigung kommen, bevor die Reform des Sexualstrafrechts verabschiedet wurde?

Feministin zu sein bedeutet, kritisch zu bleiben, auch wenn alle anderen in einen Freudentaumel verfallen. Wie zum Beispiel Anfang Juli, als „Nein heißt nein“ endlich im Sexualstrafrecht verankert wurde.

In verschiedensten Medien feiern Feminist*innen das neue Gesetz. Für mich als Feministin gibt es keinen Grund zu feiern. Und alle Feminist*innen, die, wie ich, weiß sind und das neue Gesetz als historischen Erfolg verbuchen, sollten aufhören, sich so zu nennen.

Mit dem neuen Gesetz werden feministische Forderungen instrumentalisiert, um Abschiebung und rassistische Diskriminierung zu rechtfertigen. Wenn wir als Feminist*innen Gleichheit fordern, muss das Gleichheit für alle heißen.

Alles andere ist nicht Feminismus, sondern höchstens eine Ermächtigung der eigenen (weißen) Gruppe auf Kosten der weiteren Unterdrückung einer anderen (nicht weißen). Und genau das ist es, worauf das neue Sexualstrafgesetz beruht.

Es geht um zwei Aspekte, die in der Beurteilung der Reform oft nicht beachtet werden. Erstens wird das Aufenthaltsrecht weiter eingeschränkt: Eine Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die nach dem veränderten Strafrechtsparagrafen 177 verurteilt wird, kann in Zukunft leichter abgeschoben werden.

Rassistische Polizeigewalt

Zweitens können ganze Gruppen strafbar gemacht werden, wenn eine Person aus dieser Gruppe heraus einen sexuellen Übergriff begeht – ob das verfassungsmäßig ist, ist fraglich. Wie in der Praxis festgestellt werden soll, wer „sich an der Gruppe beteiligt“ hat, ebenso.

Im Zuge des gesellschaftlichen Diskurses nach Köln, in dem immer wieder arabische und nordafrikanische Männer als Sexualstraftäter vorkommen, besteht außerdem die Gefahr, dass das Gesetz in der Praxis viel Raum für rassistische Polizeigewalt lässt.

Keine Frage, die Reform des Paragrafen 177 war überfällig. In einer Studie von 2004 gaben laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 58,2 Prozent der befragten Frauen an, schon Situationen sexueller Belästigung erlebt zu haben.

Von durchschnittlich 8.000 angezeigten Vergewaltigungen im Jahr führen gerade einmal 1.000 zur Verurteilung der Täter und nur acht Prozent der von sexueller Gewalt Betroffenen gehen überhaupt zur Polizei.

Warum musste es erst zu einem Vorfall massiver sexueller Belästigung kommen, bei dem die Mehrheit der Täter die „Anderen“ waren, bevor in Deutschland endlich die Reform des bis dato zu laxen Sexualstrafrechts verabschiedet wurde?

„Die Anderen“

Es war die öffentliche Debatte über die Kölner Silvesternacht, die zu dem Paragrafen 177 in seiner neuen Form geführt hat. Die Vorkommnisse eigneten sich bestens, um sexuelle Gewalt auf die „Männer mit arabischem Aussehen“ auszulagern – und sich so mit der eigenen schuldhaften Verstrickung nicht befassen zu müssen.

Nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch das Gesetz selbst lassen vermuten, dass ihm rassistische Vorurteile zugrunde liegen: Die Täter, das sind immer „die Anderen“.

Warum wurde mit der Gesetzesnovelle das Asylrecht und das Aufenthaltsrecht gleich mit verschärft, wenn es eigentlich um den Schutz der Betroffenen vor sexueller Gewalt gehen sollte?

Tatsächlich aber hat dieses Narrativ in Europa eine lange Tradition. Die kolonialen Strategien wiederholen sich. Schon im 19. Jahrhundert instrumentalisierte der Westen den weiblichen Körper, um Unterdrückung zu legitimieren: Damals die Kolonialherrschaft, heute die Abschiebung von Geflüchteten.

Der Literaturwissenschaftler Edward Said war einer der Ersten, der aufzeigte, wie der Westen den „Orient“ in Kunst, Literatur und Wissenschaft als rückständig und irrational darstellte, um sich selbst in Abgrenzung dazu als aufgeklärt und rational in Pose werfen zu können.

„Die orientalische Frau“

Sexualität und die Rolle der Frau in der Gesellschaft spielten dabei eine zentrale Rolle. So schrieb der französische Schriftsteller Gustave Flaubert 1853 nach einer Ägyptenreise: „Die orientalische Frau ist nicht mehr als eine Maschine. Sie macht keinen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Mann“ – und sprach den Frauen so das Menschsein ab.

Ähnlich entmenschlichende Assoziationen waren nach der Silvesternacht in Köln auch über das andere Geschlecht, also die „nordafrikanischen Männer“ zu lesen, die Tieren gleich nicht in der Lage seien, ihre Sexualität zu kontrollieren.

Halbnackte Frauen, die lasziv im „Hamam“ oder im „Harem“ herumliegen oder auf dem Bazar als Sklavinnen verkauft werden, sind häufige Motive in den Gemälden europäischer Maler aus dem 19. Jahrhundert. Oft werden die Objekte der Begierde als weiß dargestellt und die Menschen, die sie bedienen oder die sie anschauen, als schwarz.

Laut Zachary Lockman, Professor für Middle Eastern and Islamic Studies, lebten die Künstler in solchen Darstellungen eigene Fantasien aus, die sie gleichzeitig auf die orientalischen „Anderen“ abschoben. Die moralische Überlegenheit des Westens wurde in Abgrenzung dazu abermals bestätigt.

Auch ein niedriger gesellschaftlicher Status von Frauen, also deren Ausbeutung und Unterdrückung, wurde von den Kolonialmächten immer wieder benutzt, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen.

Die afghanische Frau

Lord Cromer, in den Jahren 1877 und 1907 britischer Generalkonsul in Ägypten, liefert hierfür zahlreiche Beispiele. „Die Position von Frauen in Ägypten und mohammedanischen Ländern im Allgemeinen“, so schrieb er, „ist […] ein fatales Hindernis für die Erhebung des Denkens und des Charakters, welche die Einführung der westlichen Zivilisation begleiten sollte.“

Eine Argumentation, die auch bei dem Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan im Jahr 2001 eine Rolle spielte. Auch damals wurde immer wieder die unterdrückte afghanische Frau als Beleg für die Brutalität und Rückständigkeit des Talibanregimes und im Gegenzug für die moralische Überlegenheit der westlichen Truppen bemüht.

Zurück in England wurde Lord Cromer übrigens Präsident der National League for Opposing Woman Suffrage, die gegen die Frauenbewegung und das Frauenwahlrecht kämpfte.

Der europäische Versuch, Sexismus als Problem der kolonialen „Anderen“ darzustellen, reicht also schon weit zurück und war damals ebenso wie heute vor allem ein vorgeschobenes Argument, statt ein tatsächlicher Beweggrund für politisches Handeln.

Postkoloniale Theoretiker*innen gehen sogar davon aus, dass es vielerorts die Kolonialmächte selbst waren, die starre Geschlechterrollen und patriarchale Verhältnisse überhaupt erst in den Kolonien etablierten.

Witwenverbrennung

Mr Fielding Hall, Teil der britischen Kolonialverwaltung in Myanmar, fand dort, laut seinen Schriften, eine hohe Geschlechtergleichheit vor. In seinen Augen war das wiederum ein Hindernis für den Fortschritt. „Die Frauen müssen ihre Freiheit im Interesse der Männer aufgeben“, war eine der Maßnahmen, die er vorschlug, um die myanmarische Gesellschaft zu „zivilisieren“. Die Argumente wurden und werden also so gedreht, wie es gerade nützlich erscheint.

Dass Kolonialherren die Stellung der Frau derartig instrumentalisierten, machte es außerdem für kolonisierte Frauen unmöglich, für sich selbst zu sprechen, so argumentiert Gayatri Chakravorty Spivak, neben Said eine Begründerin der Postkolonialen Studien.

Die Tradition der Witwenverbrennung (Sati) in Indien, die im Übrigen nur in Ausnahmefällen in bestimmten Regionen und auch in der Regel freiwillig praktiziert wurde, wurde von den Briten als „barbarischer Brauch“ verurteilt und schließlich verboten.

Charles James Napier, Oberbefehlshaber der Truppen der Britisch-Ostindischen-Handelsgesellschaft, drohte: „Wenn Männer Frauen bei lebendigem Leibe verbrennen, hängen wir sie und konfiszieren all ihren Besitz.“ Derselbe Napier war bekannt dafür, Aufstände brutal niederzuschlagen. Wenn eine Frau sich also gegen Sati entschied, kam das einer Entscheidung für die britische Unterdrückung gleich.

Women of Colour

Einen ähnlichen Effekt könnte das neue Sexualstrafgesetz haben. In einer Pressemitteilung des Bündnisses #ausnahmslos gibt die Berliner Aktivistin Keshia Fredua-Mensah zu bedenken: „Besonders Migrantinnen und Frauen ohne geklärten Aufenthaltstatus können zusätzlich in fatale Abhängigkeitsverhältnisse gebracht werden. Wenn die Täter, wie in den meisten Fällen, aus ihrem privaten Umfeld stammen, kann das Risiko einer Abschiebung dazu führen, dass die Betroffenen erst gar keine Anzeige erstatten.“

Die Betroffenen von sexualisierter Gewalt werden dabei zum Schweigen gebracht. Das gilt besonders für Women of Color. Deshalb ist das neue Sexualstrafrecht für Feminist*innen kein Grund zum Feiern.

29 Jul 2016

AUTOREN

Lou Zucker

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