taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Mein liebstes Spielzeug
Um den Spieltrieb zu befriedigen, musste man früher kreativ werden – oder im Sandkasten auch mal über Leichen gehen.
NSU war damals eine angesehene Automarke in einem grauen Land, in dem der Weiße Riese und schwarze Pädagogik herrschten. Die Serie über eine Kindheit in der Westzone zwischen Umweltverschmutzung, Pellkartoffeln und Kaltem Krieg
Immer nach dem Einschluss um 17 Uhr ordnete ich in der Stiefkinderzelle meine drei Spielsachen: den Stein. Den Stock. Die Plastikschippe.
Der Stein war ein wunderschöner, glatter Kieselstein, den ich „an der früschen Luft“ gefunden hatte. Mit seiner Hilfe träumte ich mich an ferne Orte, die ich eines Tages einmal sehen würde: Wolfenbüttel. Eckernförde. Gera. Die Schippe hatte ich für den Sandkasten bekommen, um ihn damit einmal täglich umzugraben. Meine Eltern hofften, dass ich Gold finden würde. Mein Lieblingsspielzeug aber war der Stock. Stiefvater hatte ihn mir zu Weihnachten aus dem Wald mitgebracht. Es sei ein Vielzweckstock, sagte er. Ich müsse gut darauf aufpassen.
Ich liebte dieses Stück Holz. Ich stellte mir vor, es wäre ein riesiger Palast, in dem eine Räuberdynastie wohnte. Die Räuber feierten üppige Gelage und wetteiferten, wer der beste Räuber wäre. Manchmal verdrosch mich Stiefvater auch damit. Wie gesagt: Vielzweckstock.
Das war nicht viel Spielzeug, doch für mich mehr als genug. Denn was wir in überreichem Maß besaßen, war Fantasie. So wurde ein faulender Salzhering zum Raumschiff, die Maden waren die Astronauten.
Schmandige Kuscheltiere und Matchbox-Autos
Mein liebstes Spielzeug überhaupt war ein an den Ohren angesengter Teddybär, der auf einem Brustlatz seinen Namen, Grischenka, in kyrillischen Buchstaben trug. Stiefopa war im Krieg bei einer Art Schutzstaffel tätig. Im Rahmen seiner Tätigkeit dort hatte er den Teddy von einem Stiefkind übernommen, das ihn wohl nicht mehr brauchte, und ihn mir nach Hause mitgebracht. Stiefmutter entriss ihn mir daraufhin wieder, weil wir von Fremden nichts annehmen durften. Er ging an ein Scheidungskind, das, so erklärte sie mir ruhig bei meiner Tracht Prügel, Spielsachen viel nötiger hatte.
Nur einmal hatte ich für kurze Zeit ein noch tolleres Spielzeug. Im Sandkasten traf ich auf ein verwöhntes Stiefkind, das von seinen Stiefeltern ein Matchbox-Auto bekommen hatte. Ich hieb ihm wohl an die tausend Mal meine Plastikschippe auf den Kopf und irgendwann rührte es sich nicht mehr. Ich vergrub es unter dem Sand. Ob es da noch lebte?
Das Matchbox-Auto vergrub ich zu meiner eigenen Sicherheit ebenfalls. Mit meinem heutigen Weitblick hätte ich mir die Tat gewiss gespart. Aber ich war ja noch ein Kind – so perspektivisch habe ich damals nicht gedacht.
22 Jun 2016
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Kinder sollen wissen: Das Leben ist bunt. Deshalb verkaufen zwei Frauen Spielzeug, das nicht nur eine weiße Vater-Mutter-Kind-Welt zeigt.
Weihnachten war in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten Weltkriegs – mit den Waffen der schwarzen Pädagogik.
Wenn die gesamte Stief-Verwandtschaft zusammenkam, gab es Himbeerschnaps aus der Flasche und Sterbemusik aus dem Radio. Denn es wurde gefeiert.
Jeden Morgen zwei Stunden zu Fuß. Im Sommer durch Wüste, im Herbst durch Schlamm und im Winter durch metertiefen Schnee.
Besuch beim Zahnarzt, gleich nach dem Nürnberger Prozess – der Patientensessel war ein ausrangierter elektrischer Stuhl der US-Armee.
Angst vor prophylaktischen Mandeloperationen? Dagegen helfen am besten Backpfeifen. Oder gar nicht erst anstellen. Und frische Luft.
In der BRD gab es ausschließlich folgendes zu essen: Pellkartoffeln, Graubrot und Schwein. Genuss? Das war nur was für Franzosen.
Ich durfte nur einmal am Tag fünf Minuten glotzen. Erinnerung an eine Zeit, als auch Erwachsene nach elf Uhr nur Testbild sehen konnten.
Mit Kindern, deren Eltern nicht mehr zusammen waren, spielte man nicht. Da hatte meine Stiefmutter Recht. Gut, dass sie mir das früh beibrachte.