taz.de -- Kommentar EU-Türkei-Gipfel: Wende rückwärts

Kurz vor den Landtagswahlen wird klar, was Merkel tatsächlich will: Die Balkanroute soll geschlossen werden, damit der EU-Binnenverkehr fließen kann.
Bild: Lager an der griechisch-mazedonischen Grenze: Die Flüchtlinge sollen schon in der Türkei gestoppt werden.

„Die Balkanroute ist geschlossen.“ Mit diesem knappen Satz wollen die EU-Chefs am Montag beim Türkei-Gipfel in Brüssel wohl eine dramatische Wende festschreiben. Ab sofort soll es keine Flüchtlingstrecks nach Deutschland mehr geben. Die Politik des „Durchwinkens“ ist vorbei.

Es wäre eine Kehrtwende um 180 Grad, vor allem für Kanzlerin Angela Merkel. Schließlich hat sie sich bisher in Sonntagsreden für offene Grenzen ausgesprochen. Für Grenzschließungen habe sie kein Verständnis: „Das ist nicht mein Europa“, so Merkel bei Anne Will.

Aus, vorbei. Eine Woche vor drei deutschen Landtagswahlen zeigt sich, was Merkel und die anderen EU-Chefs tatsächlich planen. Sie schließen die Balkanroute, um die Binnengrenzen wieder öffnen zu können. „Freie Fahrt für freie Bürger“ ist wichtiger als Flüchtlingshilfe.

Doch das ist nur der erste Streich. Der zweite besteht darin, Griechenland in die Enge zu treiben. Hellas soll zu einem riesigen Flüchtlingslager umgebaut werden, obwohl es nach höchstrichterlichen Urteilen nicht einmal die humanitären Mindeststandards erfüllt. Das war bisher auch der Grund, warum Deutschland das Dublin-Abkommen ausgesetzt und Flüchtlinge aus Griechenland aufgenommen hat. Doch damit soll nun Schluss sein. „In Windeseile“ müsse Athen nun Unterkünfte für 50.000 Flüchtlinge schaffen, fordert Merkel.

Was aus der versprochenen Umverteilung der Menschen in die EU-Länder wird, darüber schweigt die Kanzlerin. Worin ihre „europäische Lösung“ besteht, sagt sie auch nicht. Darüber könne man später reden, wenn die EU-Außengrenze „gesichert“ sei, heißt es nun.

Nachträgliche Legitimation

Es war die Koalition der Unwilligen, der Hardliner in Ungarn, Österreich und Mazedonien, die Fakten schufen, als Merkel Interviews gab. Und der heutige EU-Gipfel wird diese Fakten nicht mehr revidieren, im Gegenteil: Er soll sie nachträglich legitimieren.

Diese Wende rückwärts zeigt sich auch im Verhältnis zur Türkei. Beim EU-Gipfel sollen die massiven Angriffe auf die Pressefreiheit nur eine Nebenrolle spielen. Statt die staatliche Repression bei Zaman zu brandmarken, wollen die EU-Chefs enger mit den aktuellen Chefs der Türkei zusammenarbeiten.

Der Ausbau der Festung Europa ist offenbar wichtiger als die europäischen Grundwerte. Das wird – wenn nicht alles täuscht – die Botschaft dieses EU-Gipfels. Er war übrigens auf Wunsch der Kanzlerin einberufen worden. Ob die Wähler ihren „Erfolg“ quittieren werden?

7 Mar 2016

AUTOREN

Eric Bonse

TAGS

Schwerpunkt Flucht
EU-Gipfel
Balkanroute
Schwerpunkt Angela Merkel
Zaman
EU-Beitritt
Balkanroute
Ungarn
Asyl
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht

ARTIKEL ZUM THEMA

Kommentar Verhandlungen EU-Türkei: Die wahren Probleme des Deals

Bei den Verhandlungen um die Flüchtlingskrise drängt die Türkei wieder auf den EU-Beitritt. Das ist weder unverschämt noch unmoralisch.

Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa: Die Balkanroute ist dicht

Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien machen ihre Grenzen dicht. An der Kooperation zwischen der EU und der Türkei gibt es Kritik.

Rechte von Asylsuchenden in Ungarn: Weniger Geld für Flüchtlinge

Die Regierung unter Viktor Orbán plant, die Unterstützung für Asylsuchende zu kürzen. Menschenrechtler kritisieren das Vorhaben.

Kommentar EU-Türkei-Gipfel: Salto mortale

Die Türkei ist auf dem Weg in eine Diktatur – und führt in Brüssel die EU vor. Merkel macht mit und beerdigt das Grundrecht auf Asyl.

EU-Flüchtlingsgipfel: Merkel will keine Grenzerin sein

Die Bundeskanzlerin hat sich gegen die Schließung der Balkanroute ausgesprochen. Und Ratspräsident Tusk will den Gipfel länger laufen lassen als geplant.

Weltfrauentag in der Türkei: Gummigeschosse gegen Frauen-Demo

In Istanbul gab es erste Proteste zum Weltfrauentag. Hunderte Frauen versammelten sich – bis es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

An der griechisch-mazedonischen Grenze: Noch hoffen sie

Immer noch erreichen Flüchtlinge das Lager Idomeni an der Grenze zu Mazedonien – obwohl es von dort für kaum einen weitergeht.

Politikberater vor EU-Türkei-Gipfel: „900 Menschen pro Tag“

Gerald Knaus gilt als Erfinder des „Merkel-Plans“: Deutschland könnte großzügig Syrer ins Land holen und so die Türkei entlasten, schlägt er vor.

Kommentar Flüchtlinge in Europa: Tsipras und Merkel in einer Front

Griechenland und Deutschland argumentieren gemeinsam für eine Verteilung der Flüchtlinge. Lange wäre das unvorstellbar gewesen.

Vor dem EU-Türkei-Flüchtlingsgipfel: Bitten und warnen

Merkel verlangt, den bisherigen EU-Beschlüssen Taten folgen zu lassen. Überschattet wird der Gipfel vom De-facto-Verbot der türkischen Zeitung „Zaman“.