taz.de -- Politische Kultur in der Ukraine: Eklat im Parlament

Ein erboster Abgeordneter versucht Regierungschef Arsenij Jazenjuk aus dem Plenarsaal zu entfernen. Denn der müsse jetzt zurücktreten.
Bild: Tumulte im Kiewer Parlament am Freitagvormittag.

Berlin taz | Voller Körpereinsatz im ukrainischen Parlament. Als Premierminister Arsenij Jazenjuk am Freitag Vormittag eine Rede zur aktuellen Lage im Land hält, stürzt der Abgeordnete der Präsidentenpartei Petro-Poroschenko-Block Oles Barna auf ihn zu, schmeißt ihm einen Strauß roter Rosen ins Gesicht, greift ihm von hinten zwischen die Beine, hebt ihn hoch und versucht den 41jährigen vom Rednerpult weg zu zerren. Jazenjuk hält sich am Pult fest, es eilen andere zu Hilfe... [1][Ein kurz darauf im Internet veröffentlichtes Video] zeigt eine Prügelei, an der ein paar Dutzend Männer beteiligt sind.

Arsenij Janenjuk, ein aktiver Gestalter und Hoffnungsträger der Majdan-Revolution, hat in dem ersten Jahr seiner Regierungszeit wegen der drastischen Sparmaßnahmen enorm an Popularität eingebüßt. Seit Wochen werden alternative Kandidaten für das höchste Regierungsamt in den Medien gehandelt. Zu den aussichtsreichsten von ihnen zählt der Gouverneur von Odessa Michail Saakaschwili, der vor kurzem gegenüber mehreren Regierungsmitgliedern schwere Korruptionsvorwürfe erhoben hatte.

Die Rede und Antwort-Stunde im Parlament hatte bereits vorab für kontroverse Diskussionen gesorgt. Die Stimmung ist seit Tagen aufgeheizt. Viele der Kritiker der Regierungspolitik, wie die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko, fordern die Entlassung des Premiers.

Vor drei Tagen, als der US-Vizepräsident Joe Biden der Ukraine einen Besuch abstattete, säumten Billboards mit der Aufschrift „Lauf, Kaninchen, lauf” (so wird der Premierminister von seinen Landsleuten genannt), die Straßen von Kiew. Das war ziemlich unter der Gürtellinie. Dass es aber noch peinlicher werden könnte, hatte wohl keiner für möglich gehalten.

Keine europäischen Standards

„Die heutige Tat entsprach vielleicht nicht gerade europäischen Standards”, ließ kurz nach dem Eklat im Parlament Oles Barna verlautbaren. „Ich sah aber keine andere Methode, dieses Übel... Ich will damit sagen, wenn Jazenjuk nicht von allein geht, werden ihn die Leute hinaus tragen”.

„Ich mag keine Rangeleien”, schreibt ein Blogger auf dem Nachrichtenportal Ukrainska Prawda. Aber wenn man mich fragt, sollen doch lieber die Abgeordneten einander im Saal die Köpfe einschlagen, als wenn vor dem Parlament Granaten geworfen werden”. „Das ist kein Zirkus und keine Show, es geht um das Schicksal eines Landes mit Millionen Einwohnern”, kommentierte Jazenjuk das Chaos in der Werchowna Rada. Vorhang zu.

11 Dec 2015

LINKS

[1] http://www.youtube.com/watch?v=4gDF7ib66yY

AUTOREN

Jarina Kajafa

TAGS

Arseni Jazenjuk
Ukraine
Kyjiw
Schwerpunkt Korruption
Ukraine
Ukraine
Arseni Jazenjuk
taz на русском языке
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kommunalwahlen
Ukraine

ARTIKEL ZUM THEMA

Regierung in der Ukraine: Jazenjuk verliert Mehrheit

Weil eine weitere Partei die Zusammenarbeit aufkündigt, bekommt der ukrainische Regierungschef Probleme. Neuwahlen sind möglich.

Kommentar Ukrainische Innenpolitik: Verhöhnung der Opfer

Die Ausfälle im ukrainischen Parlament häufen sich. Dieser erschreckende Mangel an politischer Kultur ist ein Signal nach innen und außen.

Politische Kultur in der Ukraine: Beleidigungen und fliegende Gläser

Bei einer Sitzung kommt es zu einem handfesten Streit zwischen dem Gouverneur von Odessa Michail Saakaschwili und Innenminister Arsen Awakow.

Verhaftungen in der Ukraine: Nationalstaat gegen Nationalisten

Vor den Stichwahlen am 15. November will die ukrainische Regierung das politische Terrain bereinigen. Mit drastischen Mitteln.

Kommunalwahl in der Ukraine: Wenige Wähler, viele Probleme

Bei der Kommunalwahl gehen Sitze an eine Vielzahl von Parteien. Doch die 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge durften gar nicht erst mit abstimmen.

Kommunalwahlen in der Ukraine: Kostenlose Gräber als Wahlgeschenk

Zwei Oligarchen-Kandidaten kämpfen am Sonntag um das Bürgermeisteramt in Dnipropetrowsk. Auch ein unabhängiger Kandidat mischt mit.

Schöner leben in der Ukraine: Klitschko lässt einheizen

Eine Woche früher als üblich sind die Heizungen warm. Es ist Wahlkampf, der Kiewer Bürgermeister will wiedergewählt werden.