taz.de -- Spielfilm über Geflüchtete: Kurz vor den Ausschreitungen

„Mediterranea – Refugees welcome?“ zeigt die Odyssee von Geflüchteten aus Burkina Faso nach Italien. Er kommt ohne Romantisierung aus.
Bild: Aylva und Abas auf ihrer Flucht nach Italien.

Zwei überladene Lkws irgendwo in Afrika mitten in der Nacht. So beginnt die Reise von Ayiva und Abas nach Europa. Die Lkws bringen sie bis nach Algerien, von Algerien aus läuft die Gruppe, zu der die beiden gehören, nach Libyen. Als sie es schließlich an die libysche Küste geschafft haben, liegt vor ihnen das Mittelmeer.

Jonas Carpignanos „Mediterranea“ zeigt die Flucht von Ayiva und Abas als eine endlose Kette von Hindernissen: Kurz hinter der libyschen Grenze wird die Gruppe überfallen und ausgeraubt. In der Stadt hinter der Grenze müssen sich Ayiva und Abas erst einmal von Verwandten neues Geld organisieren. An der Küste angekommen, teilt der Schlepper der Gruppe mit, dass einer aus der Gruppe das Boot steuern muss. Schließlich auf dem Wasser, streikt der Motor des Bootes, und kaum läuft dieser wieder, gerät das Boot in einen Sturm.

„Mediterranea“ zeigt die Flucht detailreich und präzise mit Handkamerabildern, die einen vagen Eindruck vom Ausgeliefertsein geben, dem Gerüttel auf dem Lkw, der Unsicherheit auf einem kleinen, kaum seetauglichen Boot auf dem Meer. Das Aufgreifen durch die italienische Küstenwache ist dagegen ein beinahe formaler Akt: langes Warten, dann endlich ein Boot der Küstenwache, das die Menschen an Bord nimmt. In der nächsten Einstellung folgen die Geflüchteten einem Offizier durch die endlosen Gänge eines Aufnahmezentrums.

Die Bilder aus Italien sind gesetzter, weniger wackelig: Aus dem Aufnahmezentrum ziehen Ayiva und Abas weiter in den kleinen Ort Rosarno in Kalabrien, werden von Bekanntem zu Bekanntem weitergereicht, landen in einem Zeltlager am Rand der Kleinstadt und versuchen, zwischen Anfeindungen und Hilfsbereitschaft durch die Bevölkerung von Rosarno Fuß zu fassen. Wie die meisten neu Angekommenen arbeiten auch Ayiva und Abas als Tagelöhner in der Landwirtschaft, ernten Orangen für Hungerlöhne unter miserablen Bedingungen.

Schüsse auf Einwanderer

„Mediterranea“ entstand als mittelbare Nachwirkung der schweren Unruhen in Rosarno 2010, bei denen weiße italienische Jugendliche auf Einwanderer geschossen hatten und daraufhin Unruhen ausbrachen, die die italienischen Behörden durch den Abtransport der Migranten aus der Region beendeten. Die Unruhen in Rosarno waren ein Kulminationspunkt migrantischer Selbstorganisation und antirassistischer Unterstützungsarbeit – nicht zuletzt in medialer Form.

So entstanden einige aktivistische Dokumentationen wie „Il tempo delle arance“ (Die Zeit der Orangen) von Nicola Angrisano. Versuche, Migrationserfahrungen auch in filmischer Form sichtbar zu machen, wie im Archivio delle memorie migranti (AMM), bekamen vermehrt Aufmerksamkeit. Auch Jonas Carpignano zog nach den Ausschreitungen nach Rosarno und fand im Rahmen eines Kurzfilmprojekts seinen Hauptdarsteller Koudous Seihon.

„Mediterranea“ ist ein fiktionalisierter Blick auf die Vorgeschichte der Ausschreitungen, eine Verdichtung von Erfahrungsberichten: Details wie die fortwährenden Übergriffe auf die Häuser, in denen die Migranten leben, geben einen Eindruck von der prekären Lebenssituation; die Stimmungswechsel bei der Erntearbeit zwischen Kollegialität und Ausbeutungsverhältnis, die Anspannung bei den abendlichen Besuchen in den Bars der Stadt und die teils hilflose, aber wichtige Unterstützungsarbeit zeichnen ein komplexes Bild des schwierigen Verhältnisses zwischen der einheimischen Bevölkerung und den neu Angekommenen. Es zeichnet „Mediterranea“ aus, dass der Film nie in eine Romantisierung der Hilfe oder billige Versöhnungsgesten kippt.

14 Oct 2015

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Fabian Tietke

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