taz.de -- Befreiungstheologie im Vatikan: Das Stöhnen der Erde

Der deutsch-brasilianische Theologe Leonardo Boff sieht in der Enzyklika von Papst Franziskus ein Tribut an die Kirche Lateinamerikas.
Bild: Der verschmutze Ulsoor-See in Bangalore, Indien.

Es ist das erste Mal, dass ein Papst das Thema Ökologie ganzheitlich behandelt. Er bearbeitet es innerhalb eines neuen ökologischen Paradigmas – eine Herangehensweise, die der UNO bis heute in keinem einzigen offiziellen Dokument gelungen ist.

Papst Franziskus schreibt nicht in seiner Eigenschaft als Lehrer und Hüter des Glaubens, sondern als besorgter Hirte, der sich um das Wohlergehen aller Schützlinge kümmert, nicht nur um das der Menschen.

Ein Element verdient besondere Beachtung, da es die Gedankenführung des Papstes unterstreicht: sein Tribut an die pastorale und theologische Erfahrung der katholischen Kirche in Lateinamerika, die sich für die „Option der Armen“ und die Befreiung entschieden hat. Das Lehrschreiben ist typisch für Papst Franziskus und sein gesammeltes ökologisches Bewusstsein. Viele Ausdrücke und Redensarten gehen auf gedankliche Grundlagen aus Lateinamerika zurück.

Die Themen „Pflege des gemeinsamen Hauses“, „Mutter Erde“, „Schrei der Erde“, „Schrei der Armen“, Fürsorge sowie die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen voneinander – das alles geht auf unsere Kirche in Lateinamerika zurück. Die Struktur der Enzyklika unterliegt dem methodischen Ritual, das von der Kirche in Lateinamerika praktiziert wird und der theologischen Reflexion, die an die Befreiungstheologie anknüpft zu der sich Papst Franziskus bekannt hat.

Die Armen und Ausgegrenzten

Er offenbart zunächst seine größte Inspirationsquelle: der Heilige Franziskus von Assisi. Er wird vom Papst als herausragender Pionier für eine ganzheitliche Ökologie gewürdigt, der gegenüber Armen und Ausgegrenzten eine besondere Hinwendung zeigte.

Bei der aktuellen Bestandsaufnahme schreibt der Papst einen Satz, der an eine in Lateinamerika verbreitete Reflexion erinnert: Eine echte ökologische Abhandlung ist immer auch eine Sozialanalyse. Sie wirft die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auf, nach dem Schrei der Erde und dem Aufschrei der Armen. Er fügt hinzu: „Das Stöhnen der Erde vereint sich mit dem Stöhnen der Verlassenen dieser Welt.“ Das ist absolut kohärent, denn zu Anfang schreibt er, dass wir als Teil der Erde selbst die Erde sind.

Dies liegt ganz auf der Linie des argentinischen indigenen Dichters Atahaulpa Yupanqui: „Der Mensch ist die Erde, die geht, fühlt, denkt und liebt.“ Papst Franziskus verurteilt die Internationalisierung des Amazonas, die nur den Interessen multinationaler Konzerne dienen würde. Er vertritt zudem einen ethisch rigorosen Standpunkt: Es sei ein schwerwiegendes Vergehen, sich aus wirtschaftlichen Motiven große Vorteile zu verschaffen, die der Rest der Menschheit mit den hohen Kosten einer zerstörten Umwelt bezahlen muss.

Realitätsferne der Entscheidungsträger

Mit Traurigkeit stellt der Papst fest: Niemals ist die Erde so angegriffen worden wie in den letzten beiden Jahrhunderten. Angesichts dieses menschlichen Großangriffs, der von vielen Wissenschaftlern als der Beginn eines neuen geologischen und anthropozentrischen Zeitalters gewertet wird, klagt der Papst über die Ohnmacht und Realitätsferne der globalen Entscheidungsträger, die meinen, sie könnten einfach so weiter machen wie bisher.

Bei der Bewertung der Fakten problematisiert das Lehrschreiben die Rolle der Wissenschaft. Ihre technokratische Ausrichtung gebe sich der Illusion hin, dass sich mit Hilfe des technischen Fortschritts alle ökologischen Probleme beheben ließen. Dabei werde der Wert des Lebens an sich übersehen, den die Enzyklika immer wieder betont.

Weil die Wirklichkeit viele Facetten hat, die alle sehr eng zusammenhängen, wirbt Papst Franziskus für eine ganzheitliche Ökologie, die über den üblichen Umweltschutz hinausgeht. Der brüderliche Geist des heiligen Franziskus von Assisi durchdringt das ganze päpstliche Lehrschreiben. Die aktuelle Lage wird nicht als angekündigte Tragödie betrachtet, sondern als Herausforderung und Aufforderung zur „Pflege des gemeinsamen Hauses“.

Der Text ist von Leichtigkeit, Poesie, und Freude im Geist der Hoffnung getragen. So groß die Bedrohung auch sein mag, die menschliche Fähigkeit, die drängenden ökologischen Probleme zu lösen und die Schöpfung zu bewahren, ist in den Augen des Papstes noch größer.

Aus dem Portugiesischen von Astrid Prange de Oliveira

18 Jun 2015

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Boff

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