taz.de -- G-20-Gipfel in Cannes beginnt: Alles auf Krise
Das Treffen der führenden Industrie- und Schwellenländer in Cannes hat begonnen. Währenddessen senkte die Europäische Zentralbank den Leitzins auf 1,25 Prozent.
CANNES/BERLIN/FRANKFURT dapd/dpa/afp | Mit dem Eintreffen der Staats- und Regierungschefs der führenden Industrie- und Schwellenländer hat am Donnerstag im französischen Cannes der G-20-Gipfel begonnen. Die Europäische Zentralbank senkt zugleich überraschend den Leitzins.
Bereits vor den ersten offiziellen G-20-Sitzungen kamen Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Spaniens und Italiens wegen der jüngsten Entwicklungen in Griechenland zu einem weiteren Krisentreffen zusammen. Dabei sollte es auch um eine "Brandmauer" für Italien und Spanien gehen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beriet sich unterdessen mit US-Präsident Barack Obama. Der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou geriet wegen seines Plans einer Volksabstimmung auch in den eigenen Reihen in Athen zunehmend unter Druck.
Obama bezeichnete die USA als "Partner der Europäer" bei der Lösung der Schuldenkrise und lobte Merkels Führungskraft. Nun gehe es aber nicht nur um die Stabilität in der Euro-Zone, sondern um Fortschritte weltweit. Auch Merkel äußerte die Hoffnung, dass in Cannes nicht nur über den Euro gesprochen werde.
Die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer wollen bis Freitag über eine Reform des Finanzsektors beraten. Die Bundesregierung dringt auf eine stärkere Regulierung der Schattenbanken und einen Abbau der Staatsschulden.
US-Präsident Barack Obama hat die Bereitschaft erkennen lassen, die Finanzmärkte stärker als bisher an den Kosten der Krise zu beteiligen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy sagte am Donnerstag nach seinem Treffen mit Obama, es gebe die "gemeinsame Analyse", die Finanzmärkte an der Lösung der Krise zu beteiligen. Sarkozy erwähnte dabei auch die von Frankreich und Deutschland geforderte Finanztransaktionsteuer, die bislang von den USA und anderen G-20-Staaten vehement abgelehnt wird.
Juncker verspricht Schutzwälle
Bei einer Sondersitzung zur Schuldenkrise beschloss das italienische Kabinett am Mittwochabend weitere Reformen wie den Verkauf von Staatsbesitz, wie es Ministerpräsident Silvio Berlusconi vorige Woche in einem Brief an Brüssel dargelegt hatte.
Unterdessen verschärfte sich die Finanzlage Italiens erneut: Die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen des schuldengeplagten Landes kletterten auf 6,4 Prozent. Der Euro-Rettungsschirm EFSF verschob mit Rücksicht auf das Marktumfeld die Aufnahme einer neuen Anleihe für Irland.
EZB-Chefvolkswirt Thomas Mayer ermahnte Italien im Deutschlandfunk zu einer "Agenda 2020" mit umfangreichen Strukturreformen. Sollten seine Maßnahmen nicht ausreichen, würde die EZB in die Pflicht genommen und müsse große Mengen italienischer Bonds aufkaufen "mit potenziellen schwerwiegenden Folgen für die Preisstabilität und die Stabilität des Wechselkurses des Euros in der Zukunft".
Die Euro-Gruppe will nach Worten ihres Chefs Jean-Claude Juncker alles tun, um Schutzwälle aufzustellen, damit nicht die gesamte Euro-Zone "ins Rutschen kommt". Einen Austritt Griechenlands schloss er im ZDF-"Morgenmagazin" nicht aus. Wenn sie dem Euro-Raum nicht weiter angehören wollten, "dann können wir die Griechen nicht zu ihrem Glück zwingen." Papandreou warf er wegen dessen überraschender Idee eines Referendums "Illoyalität" vor.
Neuer EZB-Präsident überrascht
Der Rat der Europäischem Zentralbank senkte überraschend gleich bei der ersten Sitzung unter Vorsitz von Mario Draghi den Leitzins auf 1,25 Prozent. Das teilte die EZB in Frankfurt am Donnerstag mit.
Die meisten Ökonomen hatten trotz der drohenden Rezession und der Staatsschuldenkrise zunächst keine Zinssenkung erwartet. Denn die Inflation im Euro-Raum liegt weit über dem Zielwert der Währungshüter von knapp unter 2 Prozent. Das spricht eher für höhere Zinsen.
Niedrige Zinsen verbilligen Kredite. Das erhöht die Investitionsneigung von Unternehmen und die Konsumfreude der Verbraucher - und kann so die Konjunktur ankurbeln. Zugleich befeuern niedrige Zinsen aber die Inflation.
Die EZB hatte unter Draghis Vorgänger Jean-Claude Trichet wegen gestiegener Risiken für die Preisstabilität den wichtigsten Zins zur Versorgung der Geschäftsbanken im Euro-Raum mit Zentralbankgeld zuletzt zwei Schritten von 1,0 auf 1,5 Prozent angehoben. Als sich die Schuldenkrise verschärfte und am Konjunkturhimmel schwarze Wolken aufzogen, legten die Währungshüter in den vergangenen Monaten eine Zinspause ein.
Börsen springen nach oben
Mit einem steilen Sprung nach oben haben die europäischen Börsen auf die überraschende Absenkung des Euro-Leitzinses reagiert. Der Deutsche Aktienindex (Dax) kletterte am Donnerstagmittag unmittelbar nach der Mitteilung der EZB um 3,17 Prozent auf zwischenzeitlich 6.193 Punkte nach oben. An der Pariser Börse legte der Leitindex CAC-40 um mehr als drei Prozent zu. Der Leitindex am Handelsplatz in Mailand, MIB, kletterte sogar um mehr als vier Prozent.
Der Kurs des Euro hingegen knickte nach der Zinsentscheidung zunächst ein. Die Gemeinschaftswährung verlor gegenüber dem Dollar um zwischenzeitlich knapp zwei Cent auf 1,3656 Dollar.
Zinssenkung könnte Draghi beschädigen
Weil niedrigere Zinsen besonders den Schuldensündern Spanien, Portugal, Irland, Griechenland und Italien helfen, könnte die Zinssenkung den neuen EZB-Präsidenten als von der Politik gelenkte Figur erscheinen lassen. Besonders in Deutschland könnte jetzt Kritik auf Draghi zukommen.
"Die überraschende Zinssenkung zeigt, wie ernst die EZB Anzeichen nimmt, dass sich die Wirtschaft im kommenden Jahr eintrüben könnte," sagte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Er hatte mit einer Zinssenkung frühestens in der Dezembersitzung gerechnet.
"Die Zinssenkung hilft ganz besonders den Immobilienmärkten in Portugal, Irland und Spanien", sagte der Münchner UniCredit-Ökonom Andreas Rees. Er glaubt, dass die Inflation im Euroraum in den nächsten Monaten nicht steigen wird.
3 Nov 2011
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