taz.de -- Atomkatastrophe in Japan: "Es gibt jede Menge Tricks"

Ein Undercover-Reporter deckt Sicherheitslücken bei den Aufräumarbeiten in der Atomanlage in Fukushima auf. Betreiber Tepco spart an allen Ecken und Enden.
Bild: Löcher in den Gummistiefeln und manipulierte Strahlenmessgeräte – Schlamperei in Fukushima.

TOKYO taz | Bei den Aufräumarbeiten im zerstörten Atomkraftwerk Fukushima kommt es zu Schlampereien und Sicherheitslücken. Viele Arbeiter manipulieren ihre Strahlenmessgeräte, damit sie länger in der Anlage bleiben können. Das hat nun ein japanischer Journalist bewiesen, der im Stil von Günter Wallraff fünf Wochen "undercover" als Leiharbeiter im AKW Fukushima arbeitete.

Dessen ungeachtet will Premierminister Yoshihiko Noda am Freitag offiziell das Ende der Krisenphase in der Atomanlage verkünden. Die drei Reaktoren hätten den Zustand der "Kaltabschaltung" erreicht, bei dem das Kühlwasser nicht mehr kocht, heißt es beim AKW-Betreiber Tepco.

Dagegen warnen Kritiker, die Lage in dem Kraftwerkskomplex könne jederzeit wieder eskalieren. "Die Regierung erweckt den Eindruck, als ob sie wüsste, was in den Reaktoren los ist", sagte auch der Undercover-Reporter Tomohiko Suzuki am Donnerstag. Jederzeit könnten jedoch neue Probleme auftreten. So würden die Reparaturarbeiten ziemlich schlampig ausgeführt, berichtete er.

Für die Dekontaminierungsanlagen, die die Reaktoren mit Kühlwasser versorgen, wurden Plastikschläuche statt Metallrohre verlegt. Niemand wisse, wie lange das Plastik die hohe Strahlung aushalte, sagt Suzuki. Im Winter könnten sie gefrieren und platzen. Beim Verlegen von Rohren fehlten seinem Team häufig passende Verbindungsstücke. Dann habe man die Rohre einfach ineinandergesteckt.

Offenbar spart Tepco an allen Ecken und Enden. Selbst Schraubenschlüssel seien knapp, behauptet Hiroyuki Watanabe, Abgeordneter der Kommunistischen Partei im Gemeindeparlament von Iwaki südlich der Sperrzone. Die Sicherheitsvorschriften würden missachtet.

Einige Arbeiter dürften die Filter ihrer Atemmaske nicht wechseln, ihre Gummistiefel hätten Löcher. Auch Reporter Suzuki bekam mit, dass Tepco viele Ideen von Ingenieuren ignoriere, um Kosten zu sparen. Nach seinen Erfahrungen sind die Arbeitsvorgaben für die 3.000 AKW-Arbeiter so straff, dass viele ihre Dosimeter manipulierten, weil sie aus Pflichterfüllung ihre Aufgaben schaffen wollen.

"Es gibt jede Menge Tricks", erzählt Suzuki. Man trage das Dosimeter zum Beispiel zur Brust gewandt oder stecke es in die Socken, damit es weniger Radioaktivität registriere. Zugleich würde die Verstrahlung der Arbeiter am Tagesende nachlässig gemessen.

Außer ihm selbst habe seit März nur ein einziger Arbeiter das Angebot genutzt, eine Stammzellenprobe von seinem Blut zu entnehmen. Bei einem Tageslohn von 150 bis 200 Euro wollte niemand die Kosten von knapp 1.000 Euro tragen, obwohl sich mit den Zellen eine Leukämieerkrankung als Folge von zu viel Strahlung besser behandeln lässt.

Tepco, Toshiba und Hitachi drücken sich vor ihrer Verantwortung für die Arbeiter, indem sie auf bis zu zehn Schichten von Subunternehmern vertrauen. Mindestens 10 Prozent davon gehören nach Recherchen von Suzuki zu Japans Mafia, der Yakuza.

16 Dec 2011

AUTOREN

Martin Fritz

TAGS

Japan
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft

ARTIKEL ZUM THEMA

Erdbeben in Japan: „Es hat ganz schön gewackelt“

Ein heftiges Erdbeben erschütterte den Nordosten Japans. Eine Tsunami-Warnung wude inzwischen aufgehoben. Auch AKW-Betreiber Tepco gibt Entwarnung.

Aufräumarbeiten in Japan: Der gute Mann von Fukushima

Kurze Zeit waren die Atomsamariter von Fukushima in aller Munde. Heute herrscht Schweigen rund um die Reaktorruine. Ausgerechnet ein Arbeiter der Mafia spricht jetzt.

Atomaufsicht in Japan: Ganz sicher überprüft

Die Internationale Atomenergiebehörde stellt der Regierung in Tokio ein gutes Zeugnis aus: Die Auswertung der Stresstests für Japans AKW entspreche internationalen Standards.

Nach dem Reaktorunglück in Fukushima: Provinz setzt auf erneuerbare Energien

Die Regierung der verstrahlten Provinz fordert die Abschaltung der zehn Tepco-Meiler. Für den radioaktiven Abraum will Tokio in der Region ein Zwischenlager errichten.

Fukushima-Zwischenbericht: Tepco hat komplett versagt

Mangelhafte Kommunikation und ein unkoordiniertes Vorgehen. Der Zwischenbericht zum Super-GAU in Fukushima fällt für den Betreiber Tepco und die Regierung verheerend aus.

Demontage nach Super-GAU: Fukushima-Abriss dauert 40 Jahre

In zwei Jahren soll in Fukushima mit der Bergung der radioaktiven Brennstäbe begonnen werden. Der komplette Abriss des zerstörten japanischen Atomkraftwerks dauert Jahrzehnte.

Japanische Babynahrung kontaminiert: Radioaktives Cäsium im Milchpulver

400.000 Packungen japanischen Milchpulvers sind verstrahlt. Der Hersteller rief das Produkt zurück. Die Regierung plant als Reaktion die Senkung der Grenzwerte für Babynahrung.

Havariertes AKW Fukushima: Radioaktives Wasser ins Meer gelaufen

Etwa 300 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser sind aus dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima ins Meer gelangt. Sandsäcke sollen ein weiteres Auslaufen verhindern.

Strahlenbelastung nach Fukushima: "Im besten Fall ist es Inkompetenz"

Wie hoch ist die Strahlung in Japan nach Fukushima? Welchen Daten kann man trauen? Ein Gespräch mit einem Kartendesigner über schlechte Grafiken und unsinnige Mittelwerte.

Japan weitet Stresstests auf: Auch Zwischenlager werden geprüft

Die derzeit für 54 japanische Atomkraftwerke angeordnete Sicherheitsüberprüfung wird auf andere Nuklearanlagen ausgeweitet. Die EU überprüft weiterhin Lebensmittel aus Japan.