taz.de -- Sexismus-Debatte um Brüderle: Herrenwitz entfacht Twitter-Sturm

Nach dem Sexismusvorwurf einer „Stern“-Journalistin gegen den FDP-Spitzenkandidaten reagieren Medienfrauen zwiespältig. Bei Twitter wird wild diskutiert.
Bild: Unter dem Hashtag #Aufschrei sammelten sich tausende Kommentare mit Sexismus im Alltag.

BERLIN taz | Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter posteten Frauen und Männer am Freitag Hunderte von Einträgen zum Sexismus im Alltag – unter dem Hashtag #aufschrei, eine Kennzeichnung für tweets zum Thema. Auslöser war ein Bericht im aktuellen Stern über mutmaßliche Annäherungsversuche des Politikers Rainer Brüderle gegenüber einer Journalistin

Die 29-jährige Stern-Journalistin Laura Himmelreich hatte in einem [1][Porträt] über den FDP-Spitzenkandidaten eine Situation vor einem Jahr geschildert, als der 67jährige zu später Stunde an einer Hotelbar auf ihre Brüste geschaut und gesagt haben soll: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“. Zudem soll er ihre Hand genommen, diese geküsst und im Verlauf des Gesprächs gesagt haben: „Politiker verfallen doch alle Journalistinnen“.

Brüderle äußerte sich bislang nicht zu den Vorwürfen, von der FDP kam aber auch kein Dementi. Der Journalistinnenbund hält den Bericht der Journalistin für einschneidend. „Allzu große Nähe, Anzüglichkeiten und Übergriffe werden öffentlich. Für die Altherrenrunden der politischen Macht ist das besonders schmerzlich. Sie müssen ab nun professionelle Distanz lernen“, sagte Andrea Ernst, Vorsitzende der Vereinigung.

„Widrigkeiten des Berufs“

Die ehemalige Stern-Journalistin Wibke Bruhns äußerte sich kritisch. Sie sagte der „Süddeutschen Zeitung“, früher hätten Journalistinnen solche Belästigungen nicht aufgeschrieben. „Man versuchte, sich subtil zu wehren- ohne es an die große Glocke zu hängen“. Belästigungen gehörten zu den „Widrigkeiten des Berufs“.

Hamburgs FDP-Fraktionschefin Katja Suding erklärte, sie wundere sich über den „Zeitpunkt der Veröffentlichung und die offensichtlich damit verbundene Intention“. Brüderle ist gerade zum FDP-Spitzenkandidaten gekürt worden. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Debatte um den Artikel „betreffe in keiner Weise die Arbeit der Bundesregierung“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) plädiere stets für einen „professionellen und respektvollen Umgang“ miteinander. Die Bundesregierung arbeite mit Brüderle „gut“ zusammen.

Auf [2][//twitter.com/search?q=%23aufschrei&src=hash:Twitter] posteten Frauen Beiträge zum alltäglichen Sexismus, wenn etwa der Chef zu ihnen sage: „Wie lange willst du eigentlich noch mit Kindern warten, du wirst ja schließlich nicht jünger“.

„Mannsweib“

Eine Frau twitterte: „Bei jeder 3.Quotendiskussion: ’warum willst du überhaupt Karriere machen? Ist doch nicht erstrebenswert, so ein Mannsweib zu sein‘.“ Einige Männer schlugen zurück, einer versuchte zu ironisieren und twitterte: „Die Frau von Lidl hat mir bei der Wechselgeldrückgabe so komisch an die Hand gefaßt !!“.

Auch der ehemalige Wettermoderator Jörg Kachelmann, der einstmals der Vergewaltigung angeklagt und freigesprochen wurde, [3][twitterte] zum Thema und gab den Stern-Chefredakteuren die Schuld. Sie würden absichtlich junge Frauen auf solche Themen ansetzen. „Weil Schmierigkeit eure persönliche Kernkompetenz ist“, so Kachelmann.

Feministin Alice Schwarzer äußerte sich in ihrem Blog ebenfalls zum Thema und stellte die weitere Karriere von Rainer Brüderle infrage: „Seit die 29-jährige Stern-Autorin Laura Himmelreich Tacheles geschrieben hat, ist FDP-Chef Brüderle kein Politiker mit Zukunft mehr, sondern ein Mann von gestern.“

25 Jan 2013

LINKS

[1] http://www.stern.de/politik/deutschland/rainer-bruederle-der-spitze-kandidat-1959408.html
[2] http://https
[3] http://www.twitlonger.com/show/kqm3h2

AUTOREN

Barbara Dribbusch

TAGS

#Aufschrei
Twitter / X
Sexismus
Rainer Brüderle
#Aufschrei
#Aufschrei
Leutheusser-Schnarrenberger
Medien
FDP
Jauch
Sexismus
Rainer Brüderle
Rainer Brüderle
FDP
Rainer Brüderle
FDP

ARTIKEL ZUM THEMA

#aufschrei bei der SPD-Fraktion: Die Masken fallen

Die SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt sich mit dem alltäglichen Sexismus. Beim ersten Fachgespräch wurden frustrierende Erfahrungen ausgetauscht.

Sexismus-Debatte auf Twitter: 50.000facher #Aufschrei

Nach Rainer Brüderles schlüpfrigen Sprüchen an der Hotelbar brach eine Twitter-Debatte los. Jetzt gibt es erste Zahlen, wie oft der #aufschrei genutzt wurde.

Justizministerin verteidigt Brüderle: Dirndl-Spruch war ein „Kompliment“

Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger findet, Rainer Brüderle habe sich gegenüber der Stern-Journalistin „richtig verhalten“. Sie sehe kein Problem.

Gastbeitrag zur Sexismus-Debatte: Medien, die auf Ausschnitte starren

Im politischen Alltag sei sie nie sexuell belästigt worden, meint die Grünen-Politikerin Krumwiede. Aber die Medien berichteten mehr über ihren Körper als über ihre Politik.

FDP-Politikerin über Sexismus: „Ohne Gegenwehr endet es nicht“

Wer sich in ihrem Kreisverband frauenfeindlich äußert, muss Strafe zahlen, erzählt FDP-Politikerin Doris Buchholz. Doch Sexismus sei nicht nur ein Problem der Liberalen.

Debatte Jauch und der Herrenwitz: Von Männern, Stieren und Ochsen

Männer sollten lernen, auf Signale der angebaggerten Frau zu reagieren. Die Verwirrung, die diese Forderung auslöst, zeigt den tiefverwurzelten Sexismus in Deutschland.

Sexismus-Debatte um Brüderle: „Saloppe Bemerkung“

In der Debatte um Sexismusvorwürfe gegen Rainer Brüderle erhält der FDP-Fraktionschef Unterstützung von männlichen Kollegen. Politikerinnen kritisieren ihn.

SPD-Frauenpolitikerin über Brüderle: „Heute ist die Abwertung subtiler“

Die SPD-Vizefraktionsvorsitzende Elke Ferner über Rainer Brüderles Anmachspruch und den sich wandelnden Sexismus im parlamentarischen Alltag.

Kolumne Macht: Haben die zu Hause keinen Spiegel?

Gut, dass Rainer Brüderles Distanzlosigkeit öffentlich gemacht wurde. Woher nehmen diese Männer eigentlich ihr Selbstbewusstsein?

Kommentar Brüderle-Affäre: Brüderles Grenzüberschreitung

Es ist richtig vom „Stern“, die Geschichte zu veröffentlichen. Und die FDP sollte sich nicht als Opfer einer Kampagne stilisieren. Was ansteht, ist eine Entschuldigung.

Chauvinistische Politiker: Die ganz alltägliche Anmache

Angrapschen, spitze Bemerkungen, .... Sexismus ist im Politikbetrieb allgegenwärtig. Neu ist, dass die Mackerkultur in den Medien an Boden verliert.

Kommentar Sexismus von Politikern: Brüderle ade

Auch der letzte Macht-Macho sollte Grenzen zwischen flirtendem Miteinander und machtgesteuerter Besitzgier erkennen. Brüderle ist ein Relikt aus Bonner Zeiten.