taz.de -- Kommentar Proteste in der Türkei: Originell, fröhlich, emanzipiert
Mit ihren Aktionsformen fordert die Gezi-Bewegung die Staatsmacht heraus, schafft schöne Bilder und zeigt, welchen gesellschaftlichen Wandel sie ausgelöst hat.
„Das ist erst der Anfang, der Widerstand geht weiter“, skandiert die türkische Protestbewegung seit der [1][Gezi-Park Mitte Juni geräumt] wurde. Und, ja, der Widerstand geht weiter, trotz der [2][verstärkten Repression]. Zwar derzeit mit weniger Teilnehmern, aber dafür in neuen Formen: der [3][„stehende Mann“], der zwei Tage nach der Räumung auf dem Taksimplatz auftauchte; die [4][„Parkforen“], die am selben Abend vom Istanbuler [5][Stadtteil Beşiktaş] ihren Ausgang nahmen; das [6][kollektive Fastenbrechen] auf der Einkaufsstraße Istikal zu Beginn des Ramadan. Am Samstag schließlich die [7][Hochzeit von Nuray Çokol und Özgür Kaya], die sich während der Besetzung des Gezi-Parks kennengelernt hatten und aus ihrer Trauung eine ebenso fröhliche wie politische und nur ein klein wenig pathetische Feier machten. (Das kann man auch dann dem [8][Hochzeitsvideo] entnehmen, wenn man kein Wort Türkisch versteht.)
Mit dem Schmarren aber, der hierzulande als „kreativer Protest“ firmiert – so was wie: Attac protestiert vor dem Bundeskanzleramt mit einer [9][aufblasbaren Insel] gegen Steueroasen –, mit Darbietungen also, bei denen der organisatorische Aufwand meist so hoch ist wie die Schamgrenze niedrig, haben diese Aktionen in der Türkei nichts gemein. Sie fordern die Staatsmacht heraus, sie schaffen schöne, nie zuvor gesehene Bilder und sie drücken einen gesellschaftlichen Wandel aus, den die Gezi-Bewegung ausgelöst oder zumindest enorm beschleunigt hat.
So hält der [10][„stehende Mann“] dem Fetisch der Massen, dem auch viele Kritker der Regierung anhängen, die Verantwortung und die Möglichkeiten des Individuums entgegen. Die [11][„Parkforen“] sind der Versuch, in einem Land, in dem Politik, auch oppositionelle und außerparlamentarische, traditionell autoritär verfasst ist, einen partizipatorischen Diskurs zu organisieren. Das von einer Gruppe namens „Antikapitalistische Muslime“ veranstaltete öffentliche [12][Fastenbrechen] kündigt das Prinzip auf, dass wer fromm und sunnitisch ist, politisch rechts steht. Und die Hochzeit mit den Insignien des Widerstands verstößt gegen die auch unter Linken und Liberalen verbreitete Norm, Liebesbeziehungen, Ehe und Familie in mehr oder minder althergebrachter Weise zu regeln. Wenn das Brautpaar dann noch unter dem Jubel der Gäste verspricht, ein [13][homosexuelles Kind zu akzeptieren], dann zeigt dies, wie sehr die Gezi-Bewegung die [14][Gesellschaft bereits verändert] hat.
Kein Wunder, dass genau dieser Moment der Trauung – neben dem Vorgehen der Polizei, die nach bewährter Art mit Reizgaz, Wasserwerfern und Plastikgeschossen zur Hochzeit gratulierte –, in der Türkei für die meiste Aufmerksamkeit gesorgt hat, nicht nur für wohlwollende, versteht sich. So twitterte Ismail Karaosmanoglu, der Vorsitzende der Jugendorganisation der Regierungspartei AKP: „Möge euer Geschlecht austrocknen inschallah.“
So widerlich derlei Reaktionen sind, haben sie etwas Gutes. Sie offenbaren, ebenso wie etwa die antisemitischen Tiraden des Ministerpräsidenten [15][Recep Tayyip Erdogan] („Schuld ist Finanzlobby“) oder, expliziter, seines [16][Stellvertreters Besir Atalay] („Schuld ist die jüdische Diaspora“), mit welchen Leuten man es hier zu tun hat. Man muss nur ein bisschen kratzen, schon lugt unter dem Antlitz der wirtschaftsliberalen und „islamisch-konservativen“ AKP der [17][Islamismus] hervor.
21 Jul 2013
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Erstmals kandidieren homo- und transsexuelle Aktivisten in der Türkei. Ein Erfolg der Gezi-Proteste. Doch die CHP versteckt ihre schwul-lesbischen Kandidaten.
Nach den Protesten im Gezi-Park ist nun erstmals ein Aktivist zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Gegen Hunderte weitere laufen Verfahren.
Der Fußballclub Besiktas wird für Ausschreitungen bestraft. Die Polizei nimmt bei Razzien 80 Fans der drei großen Istanbuler Vereine fest.
Als „der stehende Mann“ vom Taksimplatz wurde Erdem Gündüz weltweit bekannt. Er will keine Politik machen, sondern die Menschenrechte stärken.
200 Personen wurden beim Ergenekon-Prozess in der Türkei verurteilt. Gut möglich, dass die Proteste deswegen bald neuen Auftrieb erhalten.
Erdogan zeigt mit dem Prozess, dass nicht nur die Kemalisten eine gefällige Justiz hatten. Auch die heutige Justiz hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun.
Gegen den Schriftsteller Dogan Akhanli wird ein neues Verfahren wegen Terrorismus eröffnet. Zudem wird ein internationaler Haftbefehl ausgestellt.
Wer glaubt, die türkische Zivilgesellschaft gebe es erst seit den Taksim-Protesten, täuscht sich. Ein Buch der Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz klärt auf.
Ägypten, Tunesien, Türkei. Jeweils zwei unversöhnliche Blöcke stehen sich gegenüber. Eine freiheitliche, säkulare Gesellschaft ist nur jenseits beider Blöcke zu haben.
Trickreich schikaniert die türkische Regierung die Unterstützer der Proteste. Die Hotelbetreiber etwa, die Demonstranten vor der Polizei schützten.
Ein Gericht hat den Baustopp für das geplante Bauprojekt im Gezi-Park gekippt. Die Regierungsgegner sehen die Entscheidung aber gelassen.
Weil ihre Liebe während der Proteste im Istanbuler Gezi-Park entflammt war, wollte ein Paar dort auch heiraten. Die Polizei warf allerdings nicht mit Reis.
Ginge es nach der Linkspartei, sollte die Bundesregierung keine Hilfe für die Polizei eines undemokratischen Regimes leisten. Doch ihre Forderung stößt bis jetzt auf Ablehnung.
Gewalt auf der Straße, Hausdurchsuchungen, innere Zensur – drei Journalisten erzählen, wie die Regierung Erdogan die Pressefreiheit unterdrückt.
Mit Knüppel und Macheten gegen Demonstranten: Wenn Reizgas nicht mehr hilft, hilft vielleicht die Erinnerung an die Zustände der siebziger Jahre.
Innerhalb der säkularen Opposition entsteht seit den Gezi-Park-Protesten eine neue Bewegung. Sie stellt das Modell des großen Führers in Frage.
Davide Martello hat auf dem Taksimplatz Menschen zum Weinen gebracht. In Dresden sammelt er Spenden für die Flutopfer. Warum macht er das?