taz.de -- Lidokino: Teich in Nahaufnahme

Scarlett Johansson gibt ein Alien im Kunstpelz und Dokumentarist Frederick Wiseman erforscht, wie die Gesellschaft funktioniert – diesmal in Berkeley.
Bild: Ein Alien? Oder die echte Scarlett Johansson?

Was tut ein Alien als allererstes, nachdem es auf der Erde gelandet ist? Es kauft sich einen roten Lippenstift und eine Jacke aus Kunstpelz, jedenfalls dann, wenn es die Hauptfigur in Jonathan Glazers Wettbewerbsbeitrag „Under the Skin“ ist.

Da dieses Alien die äußere Gestalt von Scarlett Johansson hat, fällt es ihm leicht, arglose Männer anzulocken. Statt mit ihnen zu schlafen, lässt es sie in schwarzer Flüssigkeit versinken. Nach einer Weile verlieren die Körper der Männer ihre Konturen und lösen sich in einem roten Strom auf.

Es sieht ganz so aus, als wollte Glazer einen Nachtmahr in Szene setzen, vor schottischer Kulisse, doch was auf der Leinwand zu sehen ist, ist viel zu stilisiert, als dass es verunsichern könnte.

Wollte das Alien seine Zeit sinnvoller nutzen und mehr über die Erde erfahren, es täte gut daran, sich die Filme Frederick Wisemans anzusehen. Seit vielen Jahren erforscht der US-amerikanische Dokumentarist, wie Gesellschaft funktioniert.

Obwohl er schon 83 Jahre alt ist, ist er noch sehr aktiv. Seit 2006 hat er einen Film über Gesetzgebungsverfahren in den USA gedreht („State Legislature“), einen weiteren über das Ballett der Pariser Oper („La Danse“), einen über einen Pariser Nachtclub, „Crazy Horse“, und noch einen über ein Boxstudio in Texas, „Boxing Gym“.

In keiner Sekunde langweilig

Als sein jüngster Film „At Berkeley“ in der Sala Perla Premiere feiert, ist er zugegen, ein alter Herr mit wirrem Haar und freundlichem Gesicht. Nach der Vorführung steht eine ältere Dame auf, stellt sich als Dekanin einer britischen Universität vor, bedankt sich überschwänglich für „At Berkeley“ und wünscht sich, der britische Kultusminister möge ihn sich ansehen. „Es steht leider nicht in meiner Macht, den Kultusminister dazu zu zwingen, sich den Film anzuschauen“, bedauert Wiseman.

„At Berkeley“ porträtiert die gleichnamige kalifornische Universität, die im Ranking der US-amerikanischen Eliteuniversitäten weit vorne liegt, obwohl sie keine Privatuni ist und einem sozialdemokratischen Ethos folgt: Wer die entsprechende Intelligenz mitbringt, der- oder diejenige soll unabhängig von Herkunft und Einkommen der Eltern Zugang zu Bildung haben.

In der Praxis ist das nicht einfach, das ahnt man schon in der zweiten Sequenz, als eine afroamerikanische Studentin in einem politikwissenschaftlichen Seminar ausführt, wie sehr sie sich darüber wundere, dass ihre weißen Kommilitonen erst seit der Wirtschaftskrise über Armut und schwindende Chancen nachdenken. „Wo ich herkomme, gab es schon immer Armut.“

„At Berkeley“ dauert vier Stunden und ist in keiner Sekunde langweilig. Der Film fordert heraus, so wie es das Seminar über Supernovae und dunkle Energie tut, und er vergnügt, so wie es die Tai-Chi-Bewegungen eines Roboters im Labor tun. Und er hat wunderbar subtile Momente der Selbstreflexion, etwa in der Sequenz, in der die Studierenden mit Thoreaus „Walden“ lernen, was für ungeahnte Perspektiven es schafft, sich einen Teich aus der Nähe anzuschauen.

4 Sep 2013

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Cristina Nord

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